Sevak Aramazd, DIE ARMENISCHE MODERNE LITERATUR
DIE MODERNE ARMENISCHE LITERATUR
Einführungsbetrachtung
„Die Kunst hat keine Heimat. Aber jede Heimat hat ihre Kunst“ (Avetik Isahakyan)
Wie das Schicksal eines Volkes, so auch das Schicksal seiner Literatur. Es ist diese unumstößliche Wahrheit, die auf verhängnisvolle Weise determiniert, was eine Literatur ausmachen kann. Die armenische Geschichte liefert reichlich Belege dafür.
Von einem einheitlichen Fluss der armenischen Literatur kann man so nicht sprechen. Sie ähnelt eher einem mehrarmig ausgebreiteten Flussdelta, das – obwohl es in alle möglichen Richtungen strömt – dennoch eine Einheit bildet und letzten Endes in den Ozean der Weltliteratur mündet. Im Falle eines Volkes, dessen Mehrheit, vom Schicksal verweht, auf allen Kontinenten dieser Welt verstreut lebt, ist dies nicht verwunderlich. Und jede der zahlreichen Diasporagemeinden bringt ihre eigene Literatur hervor, die ihr eigenes Spezifikum, ihre eigene Themenpalette, ja ihren eigenen erkennbaren Stil und ihre eigene Vorliebe zu bestimmten Literaturformen aufweist. Zu berücksichtigen sind auch die fremdsprachigen armenischen Autoren, die „vom armenischen Geist getrieben“ zu der Literatur verschiedener Länder ihren Beitrag geleistet haben (William Saroyan, Peter Balakian, Rouben Melik, Antonia Arslan, Alicia Ghiragossian, Kajetan Abgarowicz, Garabet Ibrăileanu u.a.), sodass man in einem gewissen Sinne von einer Art armenischer „Weltliteratur“ ausgehen kann.
Die Schwerkraft, die diese durch Raum und Zeit tief zerklüftete Landschaft im Inneren zusammenhält, ist das starke Identitätsgefühl der Armenier, sozusagen der „armenische Geist“, dessen tragendes Element die armenische Sprache darstellt. Wie der große Meister der armenischen Dichtung Avetik Isahakyan sagt: „Die armenische Sprache ist die Heimat des armenischen Volkes“, die im ständigen Austausch mit der Außenwelt immer wieder neue Blüten aus ihrer archetypischen Tiefe hervorsprießen lässt.
Ihre große Blütezeit durfte die armenische Literatur Ende des ausgehenden 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erleben, die auch als „silbernes Zeitalter“ der armenischen Literatur bezeichnet wird (in Anlehnung an das „goldene Zeitalter“ im 5. Jahrhundert). Auf beiden Seiten des zwischen Russland und der Türkei geteilten Armeniens vollzog sich gleichzeitig eine beinahe explosionsartige Entwicklung im armenischen Kulturleben, insbesondere in der Literatur, aus der fast alle großen Namen der armenischen Moderne hervorgingen, wie Petros Duryan, Misak Metsarents, Daniel Varuzhan, Siamanto, Intra, Grigor Zohrap, Ruben Sevak, Levon Shant, Kostan Zaryan, Avetik Isahakyan, Hovhannes Tumanyan, Vahan Teryan und viele andere. Ob man dies als Glück vor dem Unglück oder als eine höhnische Ironie der Geschichte auffasst, sei dahingestellt. Jedenfalls fielen viele dieser Autoren dem Genozid an den Armeniern und später auch dem stalinistischen Terror zum Opfer. Die übrigen wurden verbannt, vertrieben, zum Exil gezwungen und nur wenigen gelang es, diese Jahrhundertkatastrophen zu umgehen. Aber je schwerer ihr menschliches Schicksal war, desto gewichtiger war ihr geistiger Beitrag, den sie zur Weiterentwicklung der armenischen Literatur erbracht haben.
Angeregt durch Einflüsse der gesamteuropäischen sozialen, politischen und wissenschaftlichen Bewegungen und der philosophischen und literarischen Strömungen der damaligen Zeit (Schoppenhauer, Nitzsche, Realismus, Neuromantik, Symbolismus, Impressionismus, Futurismus usw.), aber dennoch tief im Boden der armenischen Literaturtradition verwurzelt, schufen diese Autoren, die mehrheitlich in den europäischen Hauptstädten ihre Bildung genossen hatten, eine besonders facettenreiche Literatur, die beinahe das ganze Spektrum von Fragen des menschlichen Daseins kunstvoll aufgriff. Die bewegende Kraft hinter dieser Literatur war der Drang, durch Überwindung des persönlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Leids und der unheilvollen Gegensätze der Wirklichkeit, die Freiheit für sich selbst, für das eigene Volk, für die Gesellschaft, ja für die gesamte Menschheit zu erlangen.
Obwohl die ungünstigen weltpolitischen Entwicklungen das armenische Volk an die Grenze seiner Existenz gebracht hatten, begann der tödlich getroffene Vogel der armenischen Literatur - kaum war das letzte Stück Armeniens sowjetisiert – sofort neue Lebenszeichen von sich zu geben. Nun brodelte es in der Literaturszene der armenischen Hauptstadt Jerewan. Dabei taten sich besonders zwei Namen hervor: in der Prosa Axel Bakunts und in der Dichtung Yeghishe Charents.
Yeghishe Charents ist der einflussreichste Autor der armenischen Moderne. Dank seiner ungewöhnlich mehrschichtigen dichterischen Leistung und nicht zuletzt wegen seiner Ermordung durch Stalins Schergen ist sein Name von nachfolgenden Generationen in einem gewissen Sinne sakralisiert worden. Ihm gelang es, das Erbe der armenischen Dichtung und das der Weltliteratur auf eine natürliche Weise zu einer harmonischen Synthese zusammenzuführen, was das armenische dichterische Denken nachhaltig revolutionieren sollte. Es gibt kaum ein Genre, ein Versmaß, einen Stil oder eine Erzählweise aus Ost und West, die er in seinem Schaffen unbenutzt ließ. Wie er selbst treffend formulierte: „Ich wurde in Kars geboren, aber die Heimat meiner Seele war die ganze Welt…“.
In der Zeit des sogenannten „Tauwetters“ unter Chruschtschow, als zahlreiche ehemals verbotene Autoren – darunter viele der oben genannten – und Themen, wie das des armenischen Völkermordes, rehabilitiert wurden, ging eine frische Welle durch die armenische Literatur, die auch den eigentlichen Anfang der zeitgenössischen armenischen Dichtung und Prosa markierte. Eine ganze Reihe von bedeutenden Autoren trat in Erscheinung, wie Hovhannes Shiraz, Hamo Sahyan, Gevorg Emin, Vahagn Davtyan, Silva Kaputikyan, Razmik Davoyan, Aghasi Ayvazyan, Pertch Zeytunzyan, Norayr Adalyan u. a. Das historische Leid und der moderne Mensch rückten in den Mittelpunkt der künstlerischen Beobachtung. An der Spitze dieser Bewegung standen der Dichter Paruyr Sevak und der Schriftsteller Hrant Matevosyan.
Hervorgegangen aus der Schule von Charents versuchte Paruyr Sevak einen direkten Anschluss an die Entwicklungen der europäischen Moderne zu finden, ohne dabei jedoch die bewährte Überlieferung der armenischen Dichtungssprache aufzugeben. Durch strukturelle Transformationen der Ausdrucksmittel gelang es ihm, der armenischen Dichtung eine neue Gestalt zu verleihen. Er meinte, nur unter freier Heranziehung von Geisteserfahrungen aus der Publizistik, Philosophie, Geschichte und Wissenschaft könne eine „symphonische Dichtung“ zustande kommen, die den Aufgaben der Epoche gerecht werde. Sein Einfluss bestimmte maßgeblich die weitere Entwicklung der armenischen Dichtung.
Im Unterschied zu Paruyr Sevak vertrat der Prosaiker Hrant Matevosyan die Auffassung, dass sich alle wichtigen Probleme des technisch-wissenschaftlichen Zeitalters, die existenziellen Fragen der Menschheit sehr wohl in der Literatur reflektieren ließen, ohne „das eigene Haus“ verlassen zu müssen. Seine Prosa war geprägt durch archetypische Figuren und Handlungen aus dem armenischen Dorfleben, denen er durch sein einzigartiges Einfühlungsvermögen und seine beinahe tolstojsche Darstellungspräzision eine schier unermessliche psychologische Tiefe und Komplexität verleihen konnte. Es ist nicht verwunderlich, dass er einen enormen Einfluss nicht nur auf seine große Anhängerschaft, sondern auch gleichermaßen auf seine Gegner ausübte. Aus der Matevosyan-Schule gingen zahlreiche junge Schriftsteller hervor, darunter auch führende Vertreter der gegenwärtigen armenischen Prosa wie Vano Siradeghyan und Levon Khechoyan.
Im armenischen Literaturleben der 70-iger und 80-iger Jahre entfachten sich heftige Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten „Traditionalisten“ und „Modernisten“. Die ersteren warfen den letzteren „Unselbstständigkeit“ und diese den ersteren wiederum „Rückständigkeit“ vor. Dieser „Generationsstreit“ endete in einem radikalen Bruch mit der literarischen Tradition: Eine Gruppe von „intellektuellen Dichtern“, die sich um die Literaturzeitschrift „Garun“ („Frühling“) herausgebildet hatte, gewann die Oberhand. Dies war die eigentliche „Geburtsstunde“ der armenischen Postmoderne.
Die wichtigsten Vertreter dieser Gruppe wie Henrik Edoyan, Hakob Movses, Artem Harutunyan u.a. waren nicht nur Dichter, sondern auch Literaturtheoretiker und standen in ihrem Schaffen unter dem starken Einfluss der westlichen Moderne, insbesondere der anglosächsischen Dichtung (Walt Whitman, T.S. Eliot, Ezra Pound, Bob Dylan, Allen Ginsberg usw.). Sie wendeten sich von der armenischen Dichtungssprache fast völlig ab und bildeten in ihren Werken die Denk-und Sichtweise, Formen und Strukturen der westlichen Literatur nach. Für junge Autoren, die so sehnsüchtig nach der Freiheit westlicher Art strebten, strahlte die neue Dichtung eine gewisse Faszination aus und gewann viele Anhänger.
Trotz einer gewissen Vielfalt, die das nun hemmungslose Experimentieren mit sich brachte, konnte man sich aber dem Eindruck nicht entziehen, dass da nicht ganz mit eigener Stimme gesprochen wurde. Was infolge langwieriger kulturgesellschaftlicher Entwicklungen im Westen auf natürliche Weise entstanden war, hatte in der armenischen Dichtung etwas Gekünsteltes und Befremdliches an sich. Die armenische Postmoderne legte der Dichtung hauptsächlich nüchterne Gedankenkonstruktionen zu Grunde und begann, sie mit allerlei Inhalten aus alltäglichen Erfahrungen und Assoziationen, mythologischen Parallelen und eigenen metaphysischen Überlegungen, aber auch mit provokanten Beschreibungen und exzentrischen Selbstdarstellungen zu versehen. Dies ging auch mit einer starken sprachlichen Transformation hin zu einem stärkeren Gebrauch der literarisch eher unüblichen Alltagssprache einher. Auch wenn es für die Entstehung dieser Art Dichtung am entsprechenden gesellschaftlichen Boden teilweise mangelte, war sie aus psychologischer Sicht dennoch plausibel: man flüchtete dahin, wo es möglich war, sich als „Bestandteil“ einer – auch im kulturellen Sinne – großen und freien Welt zu verstehen. Durch diesen inneren „Globalisierungsdrang“ ist es auch zu erklären, dass die doch sehr bedeutenden historischen Umwälzungen im gesellschaftlichen Leben Armeniens wie der Zerfall der Sowjetunion, die langersehnte Unabhängigkeit, der Krieg in Berg-Karabach und die vielen demokratischen Protestbewegungen von der armenischen Dichtung nicht wirklich reflektiert wurden. Auch deshalb fiel die Kommunikation zwischen der postmodernen Dichtung und der breiten Leserschaft eher spärlich aus und die Dichtung blieb hauptsächlich auf Literaturkreise beschränkt. Es bleibt abzuwarten, ob die „samtene Revolution“ im Frühling 2018 zu neuen Anregungen im Literaturleben Armeniens beitragen wird.
© Sevak Aramazd
Andere Aufsätze
MATRIX 2/2022 (68)_Zeitschrift für Literatur und Kunst
Ein Beitrag von Sevak Aramazd zum Buch:
Todesvision: Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915-1945). Herausgegeben von Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian. Aus dem Armenischen übersetzt von Gerayer Koutcharian, nachgedichtet von Tessa Hofmann und illustriert von Choren Hakobyan. Donat Verlag, 2020,
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