Sevak Aramazd, DEM ALL GEGENÜBER: DIE KUNST DES SEELENBEWUSSTSEINS, 1998
Aus dem Armenischen übersetzt vom Autor
Um sich mit dem Schaffen eines Künstlers auseinandersetzen zu können, muss man zunächst versuchen, die Dimensionen seiner Weltsicht zu umreißen, in deren Rahmen die unverwechselbare Individualität seiner Kunst zutage tritt. Wie schon die Etymologie des Begriffs ‚Individualität´ bezeugt, bedeutet dieses Wort ursprünglich ‚Unteilbarkeit´, d. h. etwas, was der Aufteilung nicht unterliegt (lateinisch: individuum= das Unteilbare). Dies zeigt, dass das ‚Individuum´ bzw. die ‚Individualität´ grundlegend-existenzielle Begriffe darstellen und nicht mit den Begriffen wie etwa ‚Person´ oder ‚Persönlichkeit´ verwechselt werden dürften, die eine begrenzte quantitativ- materielle Ausdrucksform des Individuums bzw. der Individualität aufweisen. Im Grunde genommen sind das ‚Individuum´ und die ‚Individualität´ wesensgleich und bezeichnen das ‚Unteilbare´ schlechthin. Sie unterscheiden sich nur auf der sekundären Ebene der sprachlich-kommunikativen Notwendigkeit voneinander, in der der vitale Verkörperungsdrang des Unteilbaren in Erscheinung tritt und physische, soziale und psychologische Sinngehalte nach sich zieht, die dann allesamt als ‚Persönlichkeit´ bezeichnet werden. Ihrerseits weist die ‚Individualität´ auf die ‚Identität´ (lateinisch: identitas= Gleichheit) hin, die den ‚Maß´ des Identischseins einer schaffender Persönlichkeit gekennzeichnet. Sie bestimmt, in wieweit ein Künstler als individuelles Bewusstsein mit sich selbst identisch sei. Es ist nämlich das, was das Selbst eines jeden Künstlers ausmacht. Erkenntnistheoretisch gesehen, überträgt die Kette von Begriffen ‚Individualität´ - ‚Identität´ - ‚Selbstsein´ das Problem des künstlerischen Schaffens in die Sphäre der existenziellen Erkenntnis, die einem jeden Gegenstand ermöglicht, als solcher erkannt zu werden. In diesem Fall sind die Erkenntnis des Gegenstandes und der Gegenstand der Erkenntnis ein und dasselbe.
Aus der Sicht des Existenziellen die Werke des armenischen Künstlers Van Soghomonyan betrachtend, stellen wir fest, dass er die Welt auf der Ebene des Seelenbewusstseins wahrnimmt, die im Rahmen der existenziellen Weltanschauung eine Mittelstufe zwischen dem niederen - sinnlich wahrnehmbaren - und dem höchsten - rein geistigen - Bereich derselben darstellt. Es ist hervorzuheben, dass dies als künstlerisches Prinzip etwas Neues in die armenische Kunst einbringt und gebührend einzuschätzen ist.
Die Welt als Seelenbewusstsein heißt, sie aus dem Inneren heraus als einen Seinszustand mit dem intuitiven Erkenntnisdrang in der Weise wiederzuerschaffen, dass alle Gegenstände und Situationen in Bezug darauf als Bestandteile des Seelenbewusstseins auftreten, die die Formen und Modalitäten der Sinneswahrnehmung aufgeben und zu meditativen Anstößen für den Aufstieg in eine höhere und allumfassende Wirklichkeit, die des Überbewusstseins, werden.
Nur im Hinblick darauf ist es zu erklären, dass die bekannten Kunstbegriffe wie ,Farbe´, ,Umfang´, ,Proportion´, ,Gestalt´ u.s.w. in den Werken von Van Soghomonyan in einem neuen, sich von dem üblichen Verständnis unterscheidenden Verhältnis zueinander stehen. Um von der Sprache der Naturwissenschaft Gebrauch zu machen, werden die Kraftlinien dieser Begriffe so umgewandelt, dass sie sich um den sichtbaren oder verborgenen Seelenbewusstseins-Mittelpunkt herum zentrieren. Dieser Mittelpunkt, dieses Zentrum bildet in den Werken von Van Soghomonyan ein grundlegend-ordnendes Prinzip, nicht im künstlerischen Sinne, sondern im Sinne des Seelenbewusstseins. Dadurch legen seine Werke ihre eigenständig-transzendentale Innerlichkeit an den Tag und verwirklichen sich in den gegebenen Daseinsformen als solche. Im Vorgang der Seelenerkenntnis verwandeln sich die Strukturelemente der künstlerischen Gestaltung in meditative Einheiten, deren Aufgabe es ist, den geschilderten Seelenbewusstseins-Zustand an sich möglichst rein wiederzugeben. Das äußere – intellektuelle - Kunstbewusstsein als Widerspiegelung der kulturhistorischen Gegebenheiten kann das Werk auf Umwegen und nur dann durchdringen, wenn die Anziehungskraft des erwähnten Seelenbewusstseins-Zentrums wegen der Unangemessenheit des auf Erkenntnis zielenden künstlerischen Erlebnisses nachlässt.
In dieser Hinsicht können die Werke von Van Soghomonyan bedingt in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Die erste Gruppe bilden jene Werke, die möglichst rein und vollständig das schöpferische Prinzip des Seelenbewusstseins verkörpern und außerhalb der konventionellen Kunstwahrnehmung stehen. Sie repräsentieren in unvermischter Weise die Seelenbewusstseins-Zustände und sind sozusagen selbstbezogen. Zu dieser Gruppe gehören solche Bilder wie „Der Planet“, „Abendmahl“, „Vision“, „Illusion“, „Meditation“, „Die Stadt in der Nacht“, „Vollmond“, „Frau vor dem Spiegel“, „Traum“, „An der Quelle“, „Wolken“, „Vorstellung“, „Maskerade“, „Metamorphose“, „Der Engel verlässt die Stadt“, „Trugbild“, „Himmelfahrt“, „Komposition“, „Dialog“ usw. Mit einem gewissen Vorbehalt ist die Selbstüberwindung der Kunst im Allgemeinen für all diese Werke kennzeichnend, indem die äußeren Wahrnehmungsanstöße wie Themen, Bilder, Gestalten, Umfang und Fläche, Situationen und Farben, auf ihren Seelenbewusstseins-,Doppelgänger‘ stoßend, sich gegenseitig aufheben und dann als reines Seelenbewusstseins-Erlebnis wiederkehren.
Zu diesem Vorgang tragen die meisterhaften Verwirklichungen der drei Grundfarben – Blau, Rot und Gelb – als existenzielle Lebensräume der Gegenstände im Seelenbewusstseins-Hintergrund in höchstem Maße bei, deren fließende Übergänge und sich gegenseitig durchdringende Farbschwingungen in jedem einzelnen Fall auf einen bestimmten Erkenntniszustand zielen, der nicht nur den ,Schatten‘ der vorherigen, d.h. der auf Sinneswahrnehmung bezogenen Erkenntnisstufe, die bereits überwunden ist, in sich trägt, sondern auch auf das innere Bild der nächsten, also der höheren Erkenntnisstufe, d.h. der geistigen, hindeutet. Hierauf basiert jene innere unsichtbare Bewegung, die sich - unabhängig von der Bewegung oder Unbewegtheit der sichtbaren Darstellung - als Atem der schöpferischen Kraft repräsentiert und dadurch die Aufwärtsrichtung der Seelenbewusstseins-Erkenntnis aufweist. Das künstlerische Bild der Bewegung wird hauptsächlich in Gestalt der Frau, die existenziell gesehen das weibliche Prinzip verkörpert, dargestellt. Das entspricht genau dem metaphysischen Wesen der Bewegung. Etwas mystisch ausgedrückt, ist es das ,Heilige Dreieck‘, das auf den Himmel zielt.
In den Werken von Van Soghomonyan spiegeln sich die Positionsverschiebungen dieses Dreiecks den Widerstand wider, den die Materie mit ihrer angeborenen Trägheit gegen die Bewegung leistet. Die Überwindung dieses Widerstandes als eine der Daseinsbedingungen des kosmischen Kreislaufs ist jedoch a priori vorausbestimmt.
Dies ist der Grund, warum der Betrachter der Werke von Van Soghomonyan seinen Blick vor allem auf das Seelenbewusstseins-Zentrum richtet, das der Künstler nicht zufällig nicht in der räumlichen Mitte der Bildfläche, sondern meist im oberen Teil des Bildes, manchmal auch außerhalb des Bildrahmens als eine Lichtreflexion ,positioniert‘. Durch diesen Unterschied kommt jene innere Spannung zustande, die eine wechselseitige kommunikative Verbindung zwischen Bild, Künstler und Betrachter herstellt. Es geschieht, was man gewöhnlich als ,Wunder der Kunst´ bezeichnet.
Die zweite Gruppe bilden jene Werke von Van Soghomonyan, die den Darstellungsformen und- prinzipien der modernen Kunst am nächsten stehen. In ihnen wird das Prinzip des Seelenbewusstseins nicht in unmittelbarer Weise, sondern in Vermittlung durch das Dritte ausgedrückt. Als ,Drittes’ tritt das Kulturbewusstsein auf, das die Vermittlerrolle übernimmt. In diesem Fall findet die Selbstüberwindung der Kunst auf der Ebene der Kunst selbst statt, und das Seelenbewusstsein wird zu einer Art Bezugssystem, das den ,Verschiebungswinkel’ der modernen Welt offenbart. Die Bildfläche als Erkenntnisraum spaltet sich in zwei Teile auf: Einerseits ist dies der Gegenstand, andererseits das schaffende Bewusstsein, das bestrebt ist, den Gegenstand zu überwinden. Diese Zwiespalt stellt die Welt in ihrer materiellen Seinsweise dar, die aus transzendentaler Sicht jedoch auf das Seelenbewusstsein zielt. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, rücken die strukturierenden Elemente des gesamten Kunstbaus in den Vordergrund und versuchen durch ihre Beziehungen zueinander die Wahrheit einer anderen Wirklichkeit zu übermitteln. Bilder, Themen, Gestalten und Farben tragen die Beschränktheit der Weltwahrnehmung der menschlichen Wesensart in sich. Alles zusammen ergibt sich als ,Welt des Menschen’.
Diese Welt ist zwangsweise krank, mangelhaft, unvollständig. In ihr ist ein unheilbarer ,Raumbruch´ zugegen, Selbstentfremdung, Schicksalszwang. Dies beschwört das ,verurteilte’ Bild der Zivilisation – die letztere als Seinsumwelt verstanden – mit der erstickenden Schwere ihres Stein- Papier- und Lärmchaos herauf. Und der Künstler, der diese Welt in seinen Werken widerspiegelt, ist der Erbe des Kulturbewusstseins der Zeiten. Durch die Darstellung der Wirklichkeit versucht er sie zu anderen raumzeitlichen Dimensionen in Beziehung zu setzen. Er ist ironisch, misstrauisch, halbgläubig und rebellisch. Das dauert so lange, bis der schöpferische Instinkt wie eine Zauberhand die Wirklichkeit des Seelenbewusstseins als eine höhere Umwandlungsstufe der Erkenntnis auf spontane Weise entdeckt hat.
Diese existenzielle Situation hat ihren Niederschlag in Werken von Van Soghomonyan wie „Frühstück im Freien“, „Die Zwei“, „Ikaros“, „Entführung Europas“, „Die Geburt der Venus“, „Messe“, „Kölner Dom“, „Nike“, „Wettbewerb“, „Im Atelier“, „Dante Alighieri’’, ,,Kontrapunkt’’, ,,Casanova’’, ,,Frau-nackt’’, ,,Adam und Eva’’, ,,Die Zeitreise’’ gefunden. Wie man allein anhand der Namen feststellen kann, ist die Erwähnung des Mythos für die Erschließung dieser Werke von großem Belang. Und das ist kein Zufall.
Denn der Mythos als eine archetypische Art der Erkenntnis verkörpert den Selbstüberwindungsdrang der Wirklichkeit selbst in verdichteten Formen. Das ist es nämlich, was so kennzeichnend ist für die durch physische Gesetze gefesselte menschliche Seele. In diesem Zusammenhang kann gesagt werden, dass die zweite Gruppe von angesprochenen Werken, unabhängig von Entstehungsort und- zeit, eine Art Basis für den Durchbruch zur Kunst des Seelenbewusstseins im allgemeinen Hintergrund der schöpferischen Tätigkeit von Van Soghomonyan darstellt. Dies ist der Grund dafür, dass die Verwirklichungen der Seelenbewusstseins-Kunst von Van Soghomonyan nicht durch die ,philosophischen Überlegungen´ und die Mühe, die abstrakt-theoretischen Kenntnisse mit dem malerischen Ausdruck zu bekleiden, zustande kommen, sondern durch die intuitiven Wahrnehmungen der Selbsterkenntnis, des spontan auftretenden seelischen Drangs. Das Gesagte wird auch dadurch bezeugt, dass im Fall von Van Soghomonyan die malerischen Ausdrucksmittel an sich – also separat genommen - kaum eine Rolle in der Entstehung des Werkes spielen, da sie a priori im künstlerischen Urbild des Seelenbewusstseins-Werks untrennbar vom Ganzen vorenthalten sind.
Am Schaffen von Van Soghomonyan lässt sich erkennen, dass die armenische Malerei der Gegenwart kühn danach trachtet, die Aufgabe der Kunst zu erweitern, d.h. sie von der Ebene der Ästhetik der künstlerischen Verwirklichungen zur allumfassenden Sphäre der Geisteserkenntnis zu übertragen, also dahin, wo die kosmische Hauptader des Neuen Zeitalters pocht. Und in dieser wichtigen Sache leistet Van Soghomonyan seine schöpferische Pionierarbeit. Darin sieht er als Mensch seine ,Handlung zur Wahrheit´.
© Sevak Aramazd
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MATRIX 2/2022 (68)_Zeitschrift für Literatur und Kunst
Ein Beitrag von Sevak Aramazd zum Buch:
Todesvision: Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915-1945). Herausgegeben von Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian. Aus dem Armenischen übersetzt von Gerayer Koutcharian, nachgedichtet von Tessa Hofmann und illustriert von Choren Hakobyan. Donat Verlag, 2020,
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