Regine Kress-Fricke, ARMEN. Ein Roman von Sevak Aramazd
Ergreifend ist das Schicksal des Protagonisten in Sevak Aramazds Roman.
Als einsamer Wanderer zieht Armen durch fremdes Land, nachdem er seine Heimat Armenien hat aus Not verlassen müssen. So ist Armens Schicksal gewissermaßen auch eine Metapher für das Leid von Vertriebenen und Geflüchteten.
Von einem ungnädigen Schicksal verfolgt, scheint dem traurigen Helden das Scheitern eingeboren zu sein. Ob nach aufreibender Arbeit ihm der Lohn vorenthalten wird und er nach körperlichen Attacken fliehen muss, um sein Leben zu retten oder das vergebliche Warten auf das verabredete Kommen seiner Angebeteten, immer steht Armen auf der Verliererseite. Auf der Suche nach Arbeit und der Sehnsucht, irgendwo heimisch werden zu können, durchschreitet er dunkle, bedrohliche Wälder, Buschland und karge, abweisende Landschaften. In detaillierten Beschreibungen breitet der Autor, Eigenheiten, Gerüche, Aussehen und Flora vor dem inneren und äußeren Auge der Leserinnen aus. Die Landschaften scheinen sich in Armens Stimmung zu spiegeln, bzw. sie entsprechend zu beeinflussen: “... wie der Wind draußen, über die abgrundtiefen Schluchten und Klüfte hängend, seine gewaltige Trommel gegen den steilen Gipfel der Berge schlug und das Echo seines dunklen Rauschens immer stärker wurde und in seinen Schläfen pochte ...“
Wo er auch auftaucht, bleibt er ein Fremder, und seine Suche nach einem möglichen Leben erscheint wie eine Flucht vor der realen Welt und vor sich selbst: „Wie kommt es, dass ich bin?“, ist eine seiner wiederkehrenden Fragen. Immer lastet auf ihm das Gefühl einer unbekannten Bedrohung, die sich ins Reale wandelt. Tatsächlich gerät er durch falsche Zeugen in den Verdacht, ein Kindermörder zu sein. Es gelingt ihm, nach der Verhaftung zu entkommen. Fortan schwebt diese Bedrohung wie ein Damokles Schwert über ihm und treibt ihn immer wieder dazu, sein eigenes Ich zu sezieren, wann immer ihm Dunkles, Unerklärliches widerfährt. Je tiefer er sich in sein Selbst versenkt, desto stärker wächst in ihm eine Todessehnsucht, die ihn nicht mehr loslässt.
Auf unbestimmte Art fühlt er sich schuldig, vielleicht einfach, weil es ihn gibt. Dann überfällt ihn Ungewissheit, ob er nicht doch ein Verbrechen begangen hat, verurteilt, Strafe abzubüßen, ziellos zu wandern, sinnlos zu leiden, die Last der Erinnerung zu tragen“.
Die Situationen, in die Armen gerät, beginnen gewöhnlich real, folgerichtig, wechseln dann aber häufig ins Surreale oder lösen sich in seinen Fantasiewelten auf. Enttäuschung, Verhaftung, Misshandlung übersteht Armen durch die Flucht in Kindheitserinnerungen: Die Bilder liebevoller Umarmungen, die Geborgenheit im mütterlichen Rockschoß, beschützte Erfahrungen an der Hand der Mutter durchströmen ihn wie ein Lebenselixier und lassen die tatsächliche Not verblassen. Letztlich entkommt er seinem Schicksal nicht. Aus Ehrgeiz eines Polizisten wird er wiederum als Kindermörder verfolgt. Was ihn immer bewegte die „Konfrontation mit der kleinen, kleinlichen, brutalen und lichtlosen Welt“ wird in schrecklicher Form real und Armen nach Misshandlung in den Tod getrieben. Ein Buch, dass zutiefst bewegt. Da sieht man auch gerne über die eine oder andere Ungereimtheit hinweg, die möglicherweise auf einem Übersetzerirrtum beruht. Insgesamt aber ist die Arbeit von Levon Sargsyan eine bewundernswerte, sprachlich reiche Übersetzung.
© Regine Kress-Fricke
Andere Aufsätze
MATRIX 2/2022 (68)_Zeitschrift für Literatur und Kunst
Ein Beitrag von Sevak Aramazd zum Buch:
Todesvision: Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915-1945). Herausgegeben von Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian. Aus dem Armenischen übersetzt von Gerayer Koutcharian, nachgedichtet von Tessa Hofmann und illustriert von Choren Hakobyan. Donat Verlag, 2020,
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