Sevak Aramazd. DIE MIKROBE DER ZIVILISATION: ONTOLOGIE DES SELBSTBEWUSSTSEINS. Ein Essay zur menschlichen Erkenntnis
1. Das Wirkliche
Die Geschichte der menschlichen Zivilisation setzt in dem Augenblick an, als in der Spezies Mensch der Funke des Selbstbewusstseins zündete. Das hat sich in Folge der evolutionären Entwicklung ereignet – als Reflexion des Seins über sich selbst, die der ganzen Natur, sowohl der Pflanzen- als auch Tierwelt, immanent ist. Mit Bewusstsein sind alle Lebewesen, vom Einzeller bis zum Menschen, mehr oder weniger ausgestattet, die sozusagen in den verschiedenen Frequenzen der Wahrnehmung (der Reflexion) schwingen.
Das Hauptmerkmal des Bewusstseins stellt die Fähigkeit dar, Entscheidungen zu treffen: Wo es eine Fähigkeit zum Treffen von eigenständigen Entscheidungen, d.h. Freiheit zum Wählen zwischen mindestens zwei Möglichkeiten, gibt, da ist nachweislich das Bewusstsein am Werke.
Die höchste Form des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein. Einige Tiere bringen auch zwar ein sehr schwaches, aber doch ein gewisses Selbstbewusstsein zum Vorschein, das beim Menschen seinen direkten, offensichtlichen und vollständigen Ausdruck findet.
Die Entstehung des Selbstbewusstseins lässt sich in Analogie zur Geburt eines Sterns darstellen: Wenn die dazugehörigen Voraussetzungen erfüllt sind, entzündet sich eine Anhäufung von Materie (ca. ein Drittel der Sonnenmasse) unter eigener Schwerkraft und beginnt zu leuchten. Auf dieselbe Weise verwandelt sich im Evolutionsprozess die natürliche Veranlagung zum Bewusstsein in das Selbstbewusstsein im Menschen. Als Phänomen ist das Selbstbewusstsein eine beobachtbare Größe, daher unterliegt es den Naturgesetzen, und um es zu begreifen, bedarf es keines Verweises auf irgendeine übernatürliche Quelle (Gott, Schöpfergeist etc.). Umgekehrt stellt die Quelle dieser Vorstellungen das Selbstbewusstsein selbst dar: Wenn es nämlich versuchte, nicht nur das Leben und die Welt wahrzunehmen, sondern auch sich selbst als solche (d.h., wenn sich das Selbstbewusstsein seiner selbst bewusst würde), würde es zwangsläufig auf sich selbst zurückfallen und dabei sich selbst aufheben. Wenn das Licht, das das ganze Universum sichtbar werden lässt, sich selbst erhellen würde, würde es nur noch auf die absolute Finsternis des Unbekannten stoßen. Dann würden das Subjekt und Objekt der Erkenntnis ohne weiteres zusammenfallen und sich das Sein von selbst in Nichts auflösen.
Das Selbstbewusstsein stellt ein evolutionäres Phänomen dar, sodass alles, was es hervorbringt, auch natürlich ist und den Naturgesetzen unterliegt.
Das Selbstbewusstsein bildet die Hauptgrundlage der menschlichen Zivilisation. Es wird in der Welt geboren, lebt mit dem Menschen und verschwindet im Tod. Wie jedes evolutionäres Phänomen unterliegt es den Gesetzen der Entstehung, Entwicklung und des Vergehens sowie denen des endlosen Kreislaufs der Selbstwiederherstellung (Vererbung etc.). Das bezieht sich sowohl auf den einzelnen Menschen als auch die ganze Menschheit, ebenso auf das Leben im Allgemeinen. Der einzige Unterschied zwischen dem lebendigen und dem toten Menschen ist das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein des Selbstbewusstseins. Der erste Schritt, den in Vorzeiten die Spezies Mensch selbstbewusst vollzogen hat, gehört bereits der Zivilisation. Zwischen dem durch das Aneinanderreiben von „weiblichen“ und „männlichen“ Hölzern gewonnenen Feuer und einem nach dem Quantenprinzip funktionierenden Gerät, das in einer Sekunde so viel Operationen durchführen kann wie 90 Millionen menschliche Gehirne in einem Jahr, besteht im Prinzip kein Unterschied: Beides sind Handlungen des Selbstbewusstseins.
Die Zivilisation ist also ein natürliches Phänomen. Ihr Wesen ist die Erkenntnis. Wenn der Mensch aus der Finsternis der Unwissenheit aufwacht, ist die erste und einzig mögliche Handlung, die er vollzieht, das Erkennen – Sehen, Hören, Riechen, Tasten usw., kurz: die Orientierung durch Raum und Zeit, wobei er immer bestrebt ist, richtige Entscheidungen zu treffen und sie umzusetzen. Dies bezeugt, dass alles, was im Einklang mit den Gesetzen des Seins steht, unabdingbar wahr ist. Daher ist die ganze Lebenstätigkeit des Menschen notwendigerweise auf die Wahrheit gerichtet. Dies ist das Rahmenbild des Seins.
Das Selbstbewusstsein bedeutet nicht, sich bloß seiner selbst und der Welt bewusst zu werden (Ich bin mir meiner selbst und allem, was mich umgibt, bewusst). Alle Lebewesen leben nach diesem Prinzip. Wenn die Antilope die Gefahr wittert und die Flucht ergreift, trifft sie eine Entscheidung, indem sie zwischen zwei möglichen Zuständen, dem Getötet-Werden und dem Überleben, wählt. Sie ist sich bewusst, dass sie sie ist und ihr Leben verteidigen muss. Bedingt durch gewisse Umstände (Krankheit, Kraftlosigkeit, das Nahen des natürlichen Todes usw.) kann sie auch eine gegensätzliche Entscheidung treffen, indem sie den ersten Zustand bevorzugt und sich willentlich der Vernichtung preisgibt. Das ist ein einfaches Bewusstsein, das auf Subjekt und Objekt der Handlung eindimensional bezogen ist. Das Selbstbewusstsein sagt hingegen:
Ich bin mir bewusst, dass ich mir meiner selbst und der Welt bewusst bin.
Man kann sagen, dass das Selbstbewusstsein ein sich selbst reflektierendes Bewusstsein ist, ein doppeltes Bewusstsein. Und dieses Bewusstsein des Bewusstseins tritt ausschließlich beim Menschen zum Vorschein und sonst bei keinem anderen Lebewesen. Als Phänomen ist das Selbstbewusstsein unpersönlich, da es nicht angeeignet werden kann, es ist universell. Es ist eher umgekehrt: der Mensch selbst „gehört“ dem Selbstbewusstsein, sonst würde es als Naturphänomen mit dem Tod eines einzigen Menschen auch selbst dahinschwinden. Das Selbstbewusstsein hat kein Ich. Der Mensch (der seinerseits ein Ich besitzt oder es zu besitzen glaubt) ist nur sein Träger. Wenn es sich damit anders verhielte, wäre es unmöglich, wie im Allgemeinen als auch im Einzelnen über die Spezies Mensch zu sprechen und folglich auch all das, was sein Phänomen ausmacht: die Zivilisation.
Wie jedes evolutionäre Phänomen existiert das Selbstbewusstsein nur dadurch, dass es wie jedes existierende Etwas ausnahmslos aus Teilen besteht und nach dem Prinzip der Vielheit funktioniert, in der die gegenseitige Abhängigkeit bzw. Bezogenheit der Dinge eine der Grundeigenschaften des Seins darstellt. Es gibt im Universum nichts, was allein oder separat aufträte – vom Schwarzen Loch bis hin zum Menschen und Elementarteilchen. Sogar die Gesetze der Natur existieren nicht separat, sie befinden sich ununterbrochen in stetiger Wechselwirkung. Das bedeutet, dass das Selbstbewusstsein zwangsläufig ebenso dem Prinzip der Pluralität unterliegt: Das einfache pflanzlich-tierische Bewusstsein, das überall in der Natur zugegen ist und selbständig wirkt, bildet sein evolutionäres Gegenstück. Da es keine Gegensatzpaare gibt, die sich letzten Endes nicht komplementär zueinander verhielten und dadurch erst die Bildung eines zusammenhängenden Systems überhaupt ermöglichten, ist das Selbstbewusstsein auf sein Gegenstück unabdingbar angewiesen. Dasselbe betrifft auch alle anderen Formen des Wissens an, darunter auch die wissenschaftliche Form der Erkenntnis: Allem Anschein nach stellen die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie ein solches evolutionäres Gegensatzpaar dar. Es liegt die Annahme nahe, dies sei der Grund, warum es in keiner Weise gelingt, diese beiden Erkenntnisformen in einer einzigen Weltformel zu vereinen. Denn anderenfalls stieße die Wissenschaft an die Grenze ihrer evolutionären Reproduzierbarkeit und ihre Entwicklung käme dabei zum Stillstand, indem sie sich selbst zwangsläufig aufhöbe. Die Zweiheit (Vielheit) liegt also ausnahmslos der Existenz des Universums zugrunde, ohne die es nicht entstehen und sich entwickeln konnte.
Das Gesagte lässt sich auch durch folgenden Umkehrschluss feststellen: Angenommen würde das unteilbare Eine – wie man sich dieses auch immer vorstellen mag – sich zur Existenz entschließen, dann würde es nie zum Vorschein treten können, da es die Möglichkeit zur Bewegung (Selbstentfaltung) als Voraussetzung zur Entzweiung (Vielheit) a priori ausschließen würde. Dadurch würde die Notwendigkeit seiner Existenz auch aus rein erkenntnistheoretischer Sicht widerlegt und seine Existenz käme zwangsläufig der Nicht-Existenz (d.h. dem Nichts) gleich. Folglich musste es a priori einen kleinstmöglichen Unterschied als “Spannungsfeld“ geben, damit sich das Sein polarisieren und zum Dasein „freigegeben“ werden könnte. Und die „Planckmauer“ (Wirkungsquantum) ist dieser Unterschied, den man nie überwinden kann und der meines Erachtens den naturwissenschaftlichen Grund dieser Urzweiheit darstellt. Die winzigsten Temperaturunterschiede in der kosmischen Hintergrundstrahlung, die Quantenfluktuationen des anfänglichen Vakuums sowie der Welle-Teilchen-Dualismus weisen auch darauf hin, dass die Vielheit eine fundamentale Eigenschaft des Seins darstellt, die eine absolute Singularität sowie im quantitativen als auch im qualitativen Sinne ausschließt.
Das Einzige, durch das das Sein mit sich selbst absolut identisch ist, ist die Seinsordnung, die lebendige Einheit der Gesetze des Seins.
Daher gibt es nichts, was selbstseiend, d.h. von selbst, durch sich selbst, für sich selbst existierend wäre. Das ist der Grund, warum ein absolutes, einzigartiges, ausschließliches oder „auserwähltes“ Phänomen, das außerhalb der Seinsordnung wirkte (wie etwa Gott oder Götter), grundsätzlich nicht existiert und nicht existieren kann.
Wenn man, sei es im alltäglichen Leben oder auch in der Wissenschaft, vom Bewusstsein spricht, wird darunter eben dieses Selbstbewusstsein verstanden, das Bewusstsein des Bewusstseins. Dass Selbstbewusstsein ganz Natur ist, zeigt sich auch dadurch, dass es wie alles, was existiert, ebenso zusammengesetzt ist und aus all den Aggregatzuständen besteht, wie die Materie. Analogisch lassen sich diese Zustände nach ihren Stabilitätsstufen, sozusagen der Dichte der Wahrnehmung, beschreiben:
1. instinktiv (fest)
2. empfindend (zäh)
3. denkend (fließend)
4. seelisch (gasförmig).
Man kann also diese Zustände aufgrund der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, als einfache Bewusstseinsformen bezeichnen, da sie als solche nur in Bezug auf das allumfassende Ganze – das Selbstbewusstsein – festgestellt werden können. Z.B., das Denken an sich als eine Bewusstseinsform gibt es nicht: Um eine Entscheidung zu treffen, bedarf es, mindestens mit einer anderen Bewusstseinsform (Instinkte, Sinne) zu interagieren. Diese Zustände wirken im Selbstbewusstsein gleichzeitig und kohärent. Im Einzelfall gewinnen sie an Dominanz je nach der Intensität der situativen Wahrnehmung. Ich kann eine Frau an ihrem Parfum im Dunkel oder die Entfernung zu einem Auto an der Stärke seines Geräusches erkennen usw. So eine Skala der Verhältnismäßigkeit der Bewusstseinsformen wohnt der ganzen lebendigen Natur, einschließlich des Menschen, inne.
Instinkt kann als „versteinertes“ Bewusstsein aufgefasst werden, bei dem die Freiheit, die Entscheidungen zu treffen, d.h. die Bewusstheit einer Handlung, ein Mindestmaß aufweist und die Unwissenheit dementsprechend am größten ist. Aufgrund zahlloser Wiederholungen ist beim Instinkt die zutreffende Wahl von Möglichkeiten evolutionär vorgegeben und die Entscheidung fällt blitzschnell, daher gibt es beinahe keinen räumlichen und zeitlichen Unterschied zwischen Reiz und Reflexion. Dies ist der Grund, warum der Instinkt so „schwer“, „hart“ und „unbeweglich“ ist, wie ein Felsbrocken, und es bedarf großer Zeiträume, bis sich eine minimale Veränderung vollzogen hat.
Die Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen etc.) sind freiere Formen des Bewusstseins, die als „leicht“ bezeichnet werden können. Sie verändern sich viel schneller als der Instinkt und können sogar ineinander übergehen (Man kann einen Laut „sehen“ und einen Duft „hören“ usw.). Jeder Reiz durchläuft die ganze Skala der Sinne, bis er seine entsprechende Ausdrucksform findet und sich damit identifiziert, indem er zum Sehsinn oder Gehörsinn wird usw. Die Sinne sind sozusagen eine „zähe“ Form des Bewusstseins – zäh wie Magma, Sand, Blut, Honig oder Plasma.
Die Sinne wirken naturgemäß zusammen und gewährleisten dadurch die selbständige Bewegung von Lebewesen durch Raum und Zeit. Diese Bewegung wird von der Bewusstseinsform des Denkens systematisiert und verwaltet, das ihrer Tätigkeit eine Richtung gibt, gemäß den Gesetzen des Seins. Die Entscheidungsfreiheit oder die Fähigkeit zum Wählen erreicht beim Denken ihre höchste Stufe und nimmt eine lineare Form an, die augenblicklich ihre Richtung (Aufmerksamkeit) verändern kann, indem sie sozusagen „fließend“ wird. Das Raubtier, das seine Beute verfolgt, schätzt den Abstand zwischen sich und der fliehenden Beute ein und indem es den Geschwindigkeitsunterschied zwischen seinem Lauf und dem der Beute gedanklich misst, bestimmt es den Wahrscheinlichkeitsgrad seines Erfolgs und erst dann trifft es die Entscheidung, die Verfolgung fortzusetzen oder sie zu unterbrechen. Natürlich geschieht dies alles situativ spontan und in Windeseile und auch im Falle des Menschen ist es nicht anders.
Das kommt aufgrund des anfänglichen Unterscheidungsvermögens zustande, das die Wahrnehmungen der lebendigen Natur auf der Stufe des Denkens klar und endgültig in zwei Teile, nämlich in Subjekt und Objekt, aufspaltet. Insbesondere sticht dies im Falle des Menschen hervor, indem sich die infolge dieses Prozesses entstandene Spannung in der Strukturbildung der menschlichen Sprache (Artikulation etc.) entlädt, die dann einen kommunikativen Zusammenhang zwischen diesen beiden Gegenpolen herstellt. Dadurch wird die Einheitlichkeit der Reflexion „wiederhergestellt“, indem eine Basis für die spiegelhafte Reflexion des Bewusstseins, d.h. für die Entstehung des Selbstbewusstseins (doppelte Reflexion) geschaffen wird, und es wird der Mensch geboren. Das ist der Grund, warum die Sprache und das Denken aufs Engste miteinander zusammenhängen.
Auf diese Weise gelangt das ganze Sein durch die lebendige Natur, d.h. durch die Spezies Mensch, zum endgültigen und vollständigen Bewusstsein seiner selbst.
Das bedeutet, dass der Mensch und sein Selbstbewusstsein identisch sind. Hier entstehen naturgemäß alle „rein menschlichen“ Fragen: Was? Wie? Warum? Usw.
Die Zivilisation setzt an.
Das Selbstbewusstsein ist die höchste Form des Bewusstseins, sozusagen sein „gasförmiger“ Endzustand, bei dem alle vorherigen Bewusstseinsformen als solche erkannt werden. Indem sie in ein größeres, allumfassendes System, das des Seelischen, integriert werden, werden sie zu einem natürlichen Bestandteil des Letzteren. Grob gesagt bleibt die lebendige Natur innerhalb des Selbstbewusstseins immer mit sich selbst identisch und wohin sie sich auch „begibt“, „begegnet“ sie nur sich selbst. Bedingt durch die Linearität des Denkens tritt das Selbstbewusstsein gleichzeitig sowohl als Subjekt als auch als Objekt auf, indem es augenblicklich alle erdenklichen Formen und Aspekte der zahllosen Dinge und Ereignisse im Universum annimmt. Dadurch wird das Selbstbewusstsein vor der Möglichkeit der oben angedeuteten Selbstvernichtung bewahrt, genau wie die Anziehungskraft der Erde verhindert, dass sich die Atmosphäre verflüchtigt und zu existieren aufhört.
Das Selbstbewusstsein kann sich nur unendlich erweitern, indem es durch die Erkenntnis die Grenzen des Seins immer weiter „hinausschiebt“, die durch die Seinsordnung für immer gegeben sind und deren Überschreitung nicht möglich ist. Dies zeigt sich u.a. an Folgendem: Wenn dasselbe Objekt – ein Elementarteilchen – gleichzeitig an verschiedenen Punkten des Raumes erscheinen kann (das Zeit-Prinzip), dann ist es unmöglich, dass an demselben Punkt des Raumes gleichzeitig zwei unterschiedliche Objekte erscheinen (das Raum-Prinzip) oder wie wir uns auch „entwickeln“ würden, würden wir nie dazu in der Lage sein, unsere Geburt oder unseren Tod zu überwinden (das Dasein-Prinzip). Das ist wie bei der Relativitätstheorie, die besagt, dass es unmöglich sei, die Lichtgeschwindigkeit zu „überbieten“, denn je größer die Beschleunigung eines Körpers ist, desto größer wird seine träge Masse, was wiederum unmöglich macht, die Lichtkonstante zu übertreffen. Das Selbstbewusstsein ist wie das Licht eine „reine Energie“, ohne die es unmöglich ist, sich die Möglichkeit des Seins vorzustellen. Das hängt damit zusammen, dass jede Vorstellung auch eine Handlung des Selbstbewusstseins darstellt: Wenn ich versuche, mir mein Nichtsein vorzustellen, dann setzt diese Bemühung an sich das Vorhandensein meines Selbstbewusstseins voraus und beweist im Umkehrschluss meine Existenz.
Das Sein ist Selbstbewusstsein und das Selbstbewusstsein ist Sein.
Im Selbstbewusstsein unterliegen die einfachen Bewusstseinsformen einer vierstufigen Intensivierung hinsichtlich des Grades der Bewusstheit, dabei wird der Anteil der Entscheidungsfreiheit mit jeder Stufe immer größer:
1. Instinkt – Glaube – Wille – Wunsch,
2. Sinneseindruck – Empfindung – Leidenschaft – Gefühl,
3. Denken – Verstand – Logik – Wissenschaft (wissenschaftliches Denken).
Die zahllosen gegenseitigen Durchdringungen dieser Formen bilden die Sphäre des Seelischen. Wenn die Menschen von der „Seele“ sprechen, dann meinen sie damit die Gesamtheit all dieser Bestandteile. Es ist kein Zufall, dass die Seele auch als „Innenwelt“ (Gemüt) beschrieben wird, wodurch die Äquivalenz des Seins und des Selbstbewusstseins noch einmal zum Ausdruck gebracht wird. Das ist der Grund, warum die Seele als alternative Bezeichnung für das Selbstbewusstsein weniger klar und deutlich definierbar ist: Das Denken, das u.a. die Definition der Seele aufstellt, stellt einen Bestandteil der Seele selbst dar und kann wegen seiner Linearität (Subjekt – Objekt) das Ganze nicht erfassen. Hingegen wissen alle Menschen unbeirrbar, worum es sich bei der Seele handelt (Z.B., wenn man sagt: „Die Seele des Menschen ist abgrundtief“ oder: „Trauer lastet auf meiner Seele“, dann bringen alle unmissverständlich in Erfahrung, was damit gemeint ist). Dieses Was – so meine ich – ist jener Wendepunkt, an dem sich die einfachen Bewusstseinsformen als reines Selbstbewusstsein in der Innenwelt (im Gemüt) des Menschen reflektieren.
Es muss nicht der falsche Eindruck vermittelt werden, dass das Selbstbewusstsein das „Resultat der evolutionären Entwicklung der Materie“ darstellt. Es ist weder „bewusstes Sein“ (Materialismus) noch „Bewusstsein des Seins“ (Idealismus). Im Grunde genommen sind die beiden Ansichten ein und dasselbe und verfehlen die Wahrheit gleichermaßen: Im ersten Fall ist das Subjekt das materielle Sein als Anfang und Ausgangspunkt von allem, im zweiten – das Bewusstsein (oder der unbestimmte bzw. mehrdeutige Begriff Geist). Der Grund dieser Dualität ist darauf zurückzuführen, dass das philosophisch-wissenschaftliche Denken im Allgemeinen das Bewusstsein (Selbstbewusstsein) als Untersuchungsobjekt betrachtet, indem es versucht, das Wesen des Bewusstseins zu ergründen. Dabei wird jedoch jener grundlegende Umstand außer Acht gelassen, dass es selbst als erkennendes Subjekt nur aufgrund des Bewusstseins existiert, das überhaupt erst jedwede Erkenntnis möglich macht. Dies ähnelt ungefähr dem Verhältnis zwischen der klassischen Physik (Newton, Einstein etc.) und der Quantenphysik (Heisenberg, Bohr etc.): Zum Unterschied von der Ersteren besagt die Quantentheorie, dass die Naturgesetze nur dann möglichst vollständig zu erkennen sind, wenn der Erkennende (Subjekt), die Natur (Objekt) und der eigentliche Vorgang des Erkennens eine Einheit bilden, d.h., wenn der Mensch dabei als physikalischer Faktor einbezogen ist (Versuchsanordnung).
Das Selbstbewusstsein ist die einzig lebendige und allumfassende Beziehung des Seins zu sich selbst. Daher kann es nicht auf den Teilaspekt des Denkens reduziert werden.
Daraus folgt, dass es eine reine Absurdität ist, das Selbstbewusstsein aus der Materie abzuleiten und umgekehrt die Materie aus dem (Selbst)Bewusstsein oder die Seele in den Entladungen des neuronalen Netzwerks des Gehirns bzw. in den feinen Gewebestrukturen anderer Gliedmaßen zu suchen. Das menschliche Gehirn stellt lediglich den Hauptträger des Selbstbewusstseins dar, genau wie das Ohr den des Gehörs und das Auge den des Sehens.
Das Selbstbewusstsein bzw. die Seele ist also eine evolutionäre Grundeigenschaft des Seins, vertreten durch die Spezies Mensch.
Der Grund des genannten erkenntnistheoretischen Irrtums steckt wiederum in den Strukturen des menschlichen Denkens, in der Aufspaltung des Seins in Subjekt und Objekt. Die richtungsweisende (lineare) Beziehung der Letzteren zueinander macht diesen Irrtum schier unausweichlich. Die Rahmenwahrheit ist, dass das Selbstbewusstsein die Materie als einen natürlichen Teil seiner selbst einschließt (grob ausgeführt, verfügen wir über das Wissen vom Dasein der Materie nur deshalb, weil wir mit dem Selbstbewusstsein ausgestattet sind). Das Selbstbewusstsein bezieht sich also nicht auf irgendein Subjekt oder Objekt der Erkenntnis, sondern einzig und allein die ganze Seinsordnung – auf die Einheit der Gesetze des Seins, und das ist nämlich, was das Selbstbewusstsein zur Wirklichkeit werden lässt.
Das bedeutet, dass das Selbstbewusstsein bzw. die Seele weder materiell noch immateriell, sondern wirklich ist, d.h. natürlich und somit auch ganzheitlich.
Die Ganzheitlichkeit ist ein allgemeines und identitätsstiftendes Grundmerkmal des Seins und es gibt im ganzen Universum nichts, was nur teilweise existierte – von den Sternen bis hin zu den kleinsten Mikroben. Das ist auch der Grund, warum es kein Teil-Selbstbewusstsein gibt und geben kann. Daher existiert in der Natur auch keine „Übergangsspezies“, die Träger eines solchen „halben“ Selbstbewusstseins sein könnte.
2. Das Unwirkliche
Das Selbstbewusstsein ist also wirklich und „außerhalb“ dieser Wirklichkeit existiert nichts. In all jenen Fällen, in denen die einheitliche Beziehung zwischen dem Selbstbewusstsein und der Seinsordnung nicht gegeben ist, taucht notwendigerweise das Unwirkliche auf (Gott, Religion, Traum, Mythos, Wunder, Märchen, Vision, Täuschung, Halluzination usw.).
Das Unwirkliche stellt ein gestörtes Selbstbewusstsein dar, wenn in der Reflexion nur das Subjekt wirkt und das Objekt fehlt.
Daher ist die Freiheit zum Wählen auf der Ebene des Unwirklichen beinahe unbegrenzt: Das Unwirkliche lehnt sich mit einem Fuß an das Sein an, mit dem anderen an das Nichts. Eine Brücke, die in der Luft hängen bleibt, da das gegenüberliegende Ufer nicht existiert. In dem Augenblick, in dem das Objekt der Handlung auftaucht und die Ganzheitlichkeit der Reflexion wiederhergestellt ist, verschwindet das Unwirkliche sofort, genauso wie die Vision von einer Wüstenoase verschwindet, wenn einem ihre Nicht-Existenz bewusst wird.
Das Unwirkliche ist also eine falsche Wirklichkeit, die nur in der Vorstellung des Menschen existiert. Es ist eine Gegen-Wirklichkeit – die negative Reflexion des Wirklichen in der menschlichen Wahrnehmung. Was seine Grenzen im Leben und Sein hat, tritt es im Unwirklichen unter dem umgekehrten Zeichen auf: Wenn die Kraft des Menschen begrenzt ist, dann ist die Macht Gottes unbegrenzt; wenn der Mensch körperlich ist, dann ist Gott körperlos; wenn der Mensch zeitgebunden bzw. sterblich ist, dann ist Gott zeitlos und ewig; wenn der Mensch sündhaft und böse ist, dann ist Gott gerecht und gütig (wobei stellt sich die Frage, woher der Mensch wissen will, dass „Gott“ so ist…?) usw. Das Hauptmerkmal dieser Gegen-Wirklichkeit besteht darin, dass in ihr die Seinsordnung – die Einheit der Gesetze des Seins – entweder umgangen, ignoriert oder gebrochen wird, und die Gesetze der Wirklichkeit, d.h. des Selbstbewusstseins bzw. des Seelischen, aufhören, zu wirken.
Daher können das Wirkliche und das Unwirkliche prinzipiell keinen Einfluss aufeinander nehmen, wie der Gegenstand und sein Schatten. Sie wirken grundsätzlich in unterschiedlichen Sphären der Reflexion, zwischen denen keinerlei Korrespondenz möglich ist (sogar im bohrschen Sinne). Bei jedem einzelnen Akt der Wahrnehmung ist entweder die eine oder die andere aktiv, obwohl die beiden eine absolut gleiche sprachliche und logische Struktur aufweisen können. Z.B., die Aussagen wie: „Ich bin auf der Suche nach Wahrheit“ und: „Ich bin auf der Suche nach Gott“, können nicht zueinander in Beziehung gebracht werden, weil sie einen Sinn nur in Bezug auf die Sphäre ergeben, der sie jeweils angehören. Die erstere ist eine wirkliche (da die Wahrheit den Gesetzen des Seins unterliegt) und die zweite eine unwirkliche Behauptung (da Gott den Gesetzen des Seins nicht unterliegt). Das ist der Grund, warum es prinzipiell unmöglich ist, einen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gott herzustellen und einen tatsächlichen Gottesbeweis zu erbringen.
Daraus folgt, dass nur das existieren kann, was den Gesetzen des Seins unterliegt. Daher ist die Frage nach der Existenz Gottes notwendigerweise sinnlos. Sie entspringt einzig und allein der linearen Beschaffenheit des menschlichen Denkens, indem das Prinzip der Kausalität (Ursache – Wirkung) auf der Ebene des Unwirklichen mentale (mythisch-religiöse) Projektionen im Hintergrund des Unbekannten erzeugt und zur Idee eines Schöpfers bzw. eines göttlichen Lenkers führt.
Um das Gesagte noch greifbarer zu machen, ist es sinnvoll, einen Vergleich zwischen den wissenschaftlichen (wirklichen) und den religiösen (unwirklichen) Wahrnehmungen zu ziehen. Wie unwahrscheinlich, sogar absurd einige wissenschaftliche Wahrnehmungen auch erscheinen mögen (z.B., dass man in die Vergangenheit zurückreisen und, nicht einmal geboren, seinen eigenen Großvater umbringen, den Raum wie eine Tischdecke zusammenfalten kann oder dass die Katze gleichzeitig tot und lebendig sein kann usw.), hören diese Wahrnehmungen nicht auf, wirklich zu sein, da sie mittelbar oder unmittelbar von den Gesetzen des Seins herrühren.
Und umgekehrt: Wenn der Junge aus dem Märchen den Drachen, der die Quelle in seine Gewalt gebracht hat, tötet und sie befreit; der Held des Mythos mit seinem Pferd in den Himmel steigt; Gott seinen „Sohn“ opfert, um die Menschheit zu retten; allerlei gottgesandten „Retter“ die Verstorbenen auferstehen lassen, das Wasser in Wein verwandeln und auf dem Wasser gehen; der Gottesengel durch einen Schlag zahllose Truppen von Ungläubigen vernichtet,– sind zahlreiche ähnliche Geschichten, unabhängig von ihrem vermeintlichen Tiefsinn, absolut falsch und unwirklich, da sie gegen die für immer gegebenen Grenzen des Seins verstoßen und gegen die Seinsordnung gerichtet sind. Sie sind im eigentlichen Wortsinn absolut subjektiv, d.h. können kein wirkliches Objekt der Handlung besitzen und wiederholen aufs Genauste den Umstand mit dem Traum: Diese faszinierenden oder furchterregenden Inhalte existieren allein in der subjektiven Wahrnehmung des Träumenden und sind nur im Schlafzustand wahr, aber wenn der Träumende aufwacht und das Selbstbewusstsein in seiner Beziehung zur Seinsordnung zu wirken beginnt, verflüchtigen sie sich augenblicklich und es stellt sich heraus, dass der Träumende nur noch existiert.
Durch die unumstrittene Tatsache, dass wir überall dort, wo die Spezies Mensch auf dieser Erde zuhause ist, in allen Zeiten auf ähnliche unwirkliche Geschichten, dieselben religiösen Inhalte und sich endlos wiederholende mythische Vorstellungen stoßen, wird keineswegs ihre Objektivität bewiesen. Im Gegenteil, dies zeigt nur, dass das Unwirkliche, unabhängig von Zeit und Raum, immer mit sich selbst identisch bleibt und seine Natur nie verändern kann. Dies ist nämlich der unumstößliche Beweis seiner Unwirklichkeit.
Das wird auch dadurch bewiesen, dass von Anfang an das erstrebte Ziel des mythisch-religiösen Bewusstseins immer war und ist, die Menschheit den Irrglauben einzuflößen, dass seine Geschichten, Vorstellungen, Prinzipien, sein Erkenntnissystem nicht nur wirklich wären, sondern auch das „einzig Wahre“. Daher erfindet es zwangsläufig verschiedene vermenschlichte Gestalten der „Götter“, „Gottessöhne“, „Retter“ und „Propheten“ usw., mit ihren sehr häufig voneinander „ausgeliehenen“ Biographien (Zarathustra, Moses, Buddha, Jesus Christus, Mithra, Krishna Vasudeva, Mahavira usw.), die vermeintlich „nachweislich“ historisch (d.h. wirklich) sind. Indem es absichtlich das Unwirkliche mit dem Wirklichen zu vertauschen sucht, setzt das religiöse Bewusstsein alle Mittel ein, um das Unwirkliche als etwas ganz Wirkliches erscheinen zu lassen. Z.B., trotz Abertausenden von Untersuchungen, die dieses Thema behandeln, existiert keine einzige wirkliche (nicht verfälschte) Tatsache, durch die die „Historizität“ von Krishna Vasudeva oder von Jesus Christus bewiesen bzw. belegt werden könnte – obwohl beispielsweise die christliche Religion ganz und gar auf Prämisse einer solchen „Faktizität“ beruht. Allein diese beharrliche Bemühung an sich beweist, dass nur das Wirkliche existiert und das Unwirkliche nicht.
Die einzige Möglichkeit, das Unwirkliche zum Wirklichen werden zu lassen oder die Lüge als Wahrheit darzustellen, ist die Gewalt (jeglicher Art) gegen die Gesetze des Seins, d.h. gegen die Wirklichkeit.
Die Gewalt liegt dem religiösen Bewusstsein zu Grunde, bildlich gesprochen liegt sie in den „Genen“ des Unwirklichen. Das Unwirkliche muss sich notwendigerweise vom Wirklichen abgrenzen (wie der Schatten vom Gegenstand), um als Phänomen existieren zu können (Hier liegen alle Wurzeln von religiösen Festen – Ostern, Ahnenkult, heilige Geburten usw.). Diese Abgrenzung verursacht eine Spaltung zwischen dem Selbstbewusstsein und den einfachen Bewusstseinsformen (zwischen dem Ganzen und seinen Bestandteilen), die eine gewisse Spannung in der menschlichen Wahrnehmung hervorruft, die sich nicht anders entladen kann, als durch Gewalt. Der Grund dafür ist eine der Formen des einfachen Bewusstseins, der Glaube (Siehe die Intensitätsskala des Instinkts), der nach dem Instinkt die kleinstmögliche Entscheidungsfreiheit (Bewusstheit) besitzt. Aufgrund dessen konzentriert er in sich die größte Menge der „negativen Energie“, des Fanatismus (Glaubenseifer), der dem religiösen Bewusstsein ermöglicht, sich als ausschließlich, einzigartig und einmalig zu definieren, d.h. Absolutheitsansprüche gegenüber anderen Formen des Bewusstseins (Sinneseindrücke, Denken usw.) zu erheben. Dies setzt an sich eine Konfrontation des religiösen Bewusstseins mit dem Selbstbewusstsein bzw. der Wirklichkeit voraus, die wie oben ausgeführt nach dem Vielheitsprinzip funktioniert. Das ist der Grund, warum das religiöse Bewusstsein a priori all das ablehnt, was außerhalb seiner selbst stattfinden, d.h. sich seiner Macht entziehen kann: Bei ihm geht es einzig und allein um die absolute Herrschaft über das Ganze – den Menschen, das Leben, die Natur und das Universum. Daher ist das religiöse Bewusstsein egozentrisch (selbstbezogen) und wirkt nicht individuell, sondern in Gemeinschaften, die sein „unteilbares Grundelement“ darstellen (Es gibt keinen Gläubigen, der in irgendeiner Art und Weise keiner Religionsgemeinschaft zugehörig wäre). Das einzige Individuum der Gemeinschaft ist daher das Ego Gottes, seine Person („das göttliche Selbst“). Daraus folgt, dass die Gläubigen keinen individuellen Willen zur Macht besitzen bzw. besitzen dürfen, ohne die absolute Macht Gottes zu verletzen. Dies stellt die Irrationalität des religiösen Bewusstseins dar, das selbstverständlich nicht auf der Vernunft, sondern ausschließlich dem blinden Glauben basiert.
Der Hauptinhalt einer jeden Religion ist also die absolute Macht Gottes und ihre Wirkungsweise ist zwangsläufig die Lüge. Deshalb sind all die sozialen Systeme, die sich auf den vermeintlichen „Gotteswillen“ berufen, unausweichlich gewaltbegründet und unabdingbar menschenfeindlich.
All die sogenannten „Heilige Schriften“ und „Gründungsmythen“, die die Menschheit je hervorgebracht hat, kreisen um ein und dasselbe Phänomen – die absolute Macht Gottes (des Übernatürlichen), die postuliert, dass der einzige Sinn des menschlichen Daseins, der Natur und des Universums darin bestehe, dieser Macht zu dienen, deren Befehle restlos zu befolgen, sie zufriedenzustellen, sie zu lobpreisen usw., kurz: sich ihr durch vorbehaltlose Hingabe zu unterwerfen. Nur so sei es möglich, eine „Rettung“, „ewiges Leben“ oder „ein Stück täglich Brot“ zu erwerben (Andernfalls erwarten den Menschen die „Hölle“, der „Verlust“, die „Verdammnis“ usw.). Darum müsse sich die absolute Macht Gottes auf Erden etablieren. Dies sei nur möglich, wenn die Trägerin dieser Macht, die Gemeinschaft, weltliche Macht zur Gänze übernehme bzw. an sich reiße, ohne auf die Mittel zum Zweck Rücksicht zu nehmen (Alles, was geschieht, geschieht durch den Willen Gottes, auf seine unergründlichen Befehle, daher ist es gerecht). Es ist klar, dass die menschliche profane Machtgier durch diese „Metaphysik“ einen falschen „Heiligenschein“ und eine „himmlische“ Rechtfertigung erhält. Diese Verfälschung bzw. Verdrehung der Inhalte ist allen Religionen gemeinsam und bildet den unveränderlichen Kern des religiösen Bewusstseins.
Das Gesagte wird durch die Geschichte der Religionen (Judentum, Buddhismus, Christentum, Islam usw.) und der „aus ihrer Rippe geformten“ politischen Lehren (Sozialismus, Kommunismus usw.) bestätigt. Indem sie die wirkliche Macht an sich reißen und dabei auf den unüberwindbaren Widerstand der Gesetze des Seins stoßen, erleben all diese „Lehren“, die auf „Menschenliebe“ basieren, eine zwingende Selbstnegation, die eine „Umkehr der Werte“ im wirklichen Leben verursacht. Dadurch wird das durch das Zusammenspiel der Naturgesetze aufeinander abgestimmte dynamische Gleichgewicht zwischen dem Positiven und dem Negativen gestört, und das Negativum, d.h. die „Entropie“ des Lebens (die Unordnung, Zersetzungskraft, das „Böse“) nimmt spontan zu. So verwandelt sich das Gebot „Du sollst nicht töten“ in die „Einladung“ zu Mord, begleitet von Abermillionen wirklicher Opfer, die Menschenliebe in den glühenden Menschenhass (gegen die Anderen), das Verbot des Stehlens in die hemmungslose Plünderung und Ausbeutung, das Gebot „Du sollst nicht lügen und falsch bezeugen“ in ein „Feuerwerk“ der Lüge und des Betrugs, das Verbot des Ehebruchs in zügellose Promiskuität, das Gebot der Genügsamkeit in allesverschlingende Habgier usw. Man kann sagen, je „humaner“ eine Religion ist und „erhabener“ eine politische Lehre, umso blutiger und unmoralischer ist ihre wirkliche Geschichte (das Christentum und der Kommunismus sind die unübertrefflichen Beispiele dafür). Der „unlösbare“ Widerspruch zwischen ihrer Predigt bzw. Propagierung der Menschenliebe und ihrer menschenverachtenden Umsetzung ist auf die prinzipielle Unmöglichkeit der Umwandlung des Unwirklichen in das Wirkliche zurückzuführen. Dies bezeugt auch das „Gegenbeispiel“ der innergemeindlichen unschuldig-gläubigen Versuche, nach diesen Lehren zu leben, die im Lauf der Zeit unausweichlich zu unversöhnlichen Widersprüchen führen und sogar in feindliche Zwietracht münden und letztendlich mit einer Katastrophe oder einer „Orgie der Gewalt“ enden.
Daraus ergibt sich, dass alle Bestrebungen, die „Vervollkommnung“ des Menschen oder die „paradiesische Verbesserung“ der Lebensumstände durch die religiösen Gebote oder die politischen Lehren zu bewirken, notwendigerweise unwirklich sind, daher sind sie wie die Menschheitsgeschichte ergiebig zeigt, zu einem unvermeidlichen Scheitern verurteilt. Der Spruch: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“, ist eine pure Absurdität, bar jeglichen Grunds. Unabhängig von dem Glauben bzw. der Überzeugung, ob es einen Gott gibt oder nicht, schließt die Seinsordnung an sich das künstlich erzeugte Prinzip der Allwillkür grundsätzlich aus. Das Leben aller Lebewesen, darunter auch das des Menschen, wird durch die unveränderlichen Gesetze der evolutionären Entwicklung geregelt, und die gesellschaftlichen Gesetze stellen nichts weiter dar, als deren logische Formulierungen, basierend auf der Erfahrung und dem Wissen der Spezies Mensch. Die menschliche Moral (Liebe, Treue, Ehrlichkeit, Opferbereitschaft, Menschen-und Tierliebe usw.) – genau wie das Zusammenleben der Tiere – leitet sich direkt oder indirekt aus diesen Naturgesetzen ab, die in jedem einzelnen Fall das relativ positive oder negative Verhalten des jeweiligen Menschen (oder Tieres) bestimmen. Wenn die Evolution nachweislich einen unversöhnlichen Überlebenskampf innerhalb und außerhalb der Spezies voraussetzt, dann bringt sie auf dieselbe Weise auch eine übergreifende Zusammenarbeit (Kooperation) zwischen allen Beteiligten dieses Kampfes hervor. Dieses Gesetz bezieht sich restlos sowohl auf die Tierwelt als auch die Menschheit. Dadurch wird die Einheit der Gesetze des Seins, also die Seinsordnung, aufrechterhalten und Kontinuität des Seins gewährleistet.
Eine wirkliche Notwendigkeit, den Menschen zu „verbessern“ oder zu „retten“, hat es also nie gegeben, gibt es nicht und wird es auch nie geben.
3. Die Zivilisation
Aus den bisherigen Ausführungen wird klar ersichtlich, dass das Unwirkliche keine Grundlage oder Ursache für die Entstehung der menschlichen Zivilisation sein kann. Bildlich gesprochen ist es der Schatten des Wirklichen, d.h. des Selbstbewusstseins, der nie einen Körper bekommen und den Platz des Wirklichen in Besitz nehmen kann, auch wenn er die Formen und Bewegungen des Letzteren nachzuahmen versucht. Dies bedeutet, dass das Unwirkliche (Religion, Kultur, Kunst, Musik, Literatur etc.) nie einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit ausüben kann, da es keinerlei evolutionären Wert und Sinn besitzt und besitzen kann. Deshalb haben sowohl die Religion als auch die Kultur nur eine subjektive Bedeutung, die sich auf der persönlichen Ebene des Menschen auswirkt, und wie groß und unersetzlich diese Bedeutung für das innere Leben des Menschen und der Gesellschaft auch sein mag, hat sie für die Evolution keine Relevanz. Sie bezieht sich nicht auf das ganze Selbstbewusstsein, d.h. die Wirklichkeit und kann deshalb keine Erweiterung in der Erkenntnis des Seins bewirken.
Eine Zivilisation, die auf einer Religion oder Kultur gegründet wäre, gibt es nicht und kann es nicht geben.
Der weit verbreitete Begriff wie die jüdische, christliche, buddhistische oder islamische Zivilisation ist daher ein pures Missverständnis, ohne wirklichen Sinn. Keine Thora oder Neues Testament, kein Koran oder Dhammapada, kein Shakespeare oder Gregor von Narek, kein Goethe oder Tolstoi, kein Nagarjuna oder Shantideva haben weder einzeln noch zusammen den Verlauf der menschlichen Zivilisation verändert und können ihn auch nicht verändern (Aufgrund der religiösen Identität hat kein Krieg je aufgehört, kraft der Gebote wurde kein Mord abgewendet, mithilfe eines Gebets wurde keine Krankheit geheilt, vor einer Kunst oder Literatur hat keine Tragödie haltgemacht oder mithilfe der Musik hat kein Mensch je das Glück erreicht). Auf dieselbe Weise gibt es ebenso keine „nationale“ Zivilisation wie die deutsche, jüdische, armenische, russische, englische oder arabische usw. In all diesen genannten und nicht genannten Fällen findet eine naive bzw. absichtliche Verwechslung statt: Das Unwirkliche, d.h., die Religion oder die Kultur werden als Zivilisation bezeichnet.Die Wahrheit ist aber umgekehrt:
Als evolutionäres, d.h. wirkliches Phänomen wirft die Zivilisation ihren „Schatten“, indem sie Religion und Kultur hervorbringt, aber das Gegenteil ist nicht möglich. Dies stellt eben die Unwirklichkeit der Religion und Kultur dar, durch die Seinsordnung bestimmt.
Die Religion und Kultur stellen sozusagen die „umgekehrte“ Seite des Selbstbewusstseins dar, für immer zu einem Schattendasein verurteilt. Sie sind aber da und werden immer da sein, solange das menschliche Selbstbewusstsein selbst existiert, genauso wie ein Schatten solange existiert, wie lange der Gegenstand, dem er gehört.
Das Unwirkliche ist eine eigentümliche „jenseitige Welt“, wo die Finsternis des Unbekannten unveränderlich waltet. Das radikale Nichtvorhandensein des Objekts der Erkenntnis zwingt das Unwirkliche zur Gestaltung dieses Unbekannten – nicht anders, als mit Hilfe des einzig möglichen zur Verfügung stehenden Beispiels: nach dem Bild des wirklichen Subjekts selbst. Auf diese Weise entsteht die bunte Welt der Religion und Kultur mit ihren unwahrscheinlichen Gestalten und unmöglichen Geschichten, wobei die Gesetze des Seins ihre Gültigkeit verlieren. Unausweichlich findet eine Selbstentfremdung des Selbstbewusstseins statt. Das Wirkliche weicht dem Unwirklichen, das zum einzigen Subjekt wird – meist in Form einer menschlichen Gestalt oder eines phantastischen, aber unbedingt vermenschlichten Wesens. So wird die Vorstellung von einem Gott bzw. Schöpfer geboren – als höchstes Subjekt des Daseins und Lebens, das alles Wirkliche als Objekt erst hervorbringt, und die Welt landet wie eine reife Frucht in der Hand Gottes. Es entsteht die falsche Reflexion des Wirklichen, der religiöse Glaube bzw. das religiöse Bewusstsein (in diesem Fall sind die Beiden nahezu identisch) mit ihrem falschen Subjekt und ihrem falschen Objekt, und die bekannte Geschichte der Menschheit ragt in die Höhe, mit ihrer vermeintlichen Überlegenheit des „Reinmenschlichen“ – der Religion und Kultur.
Die Figur des Schöpfers übernimmt zwangsläufig jene zentrale Rolle und Bedeutung für das Unwirkliche, wie die Seinsordnung für das Wirkliche. Mit anderen Worten: Wenn die Seinsordnung den „Gott“ des Wirklichen darstellt, so stellt Gott die „Seinsordnung“ des Unwirklichen dar, mit seiner für immer gegebenen „unergründlichen“ Schöpfung. All die Fragen daher, die wegen ihrer Sinnlosigkeit in Bezug auf die Seinsordnung nicht zulässig sind (Z.B., warum gibt es das Sein oder warum sind die Gesetzte des Seins so und nicht anders? etc.), werden bezüglich Gottes wohl möglich (Was oder wer ist Gott? Welche Eigenschaften hat er? Wie und warum hat er die Welt erschaffen? usw.). Das setzt eine schier unbegrenzte Anzahl von Antworten voraus (Dadurch ist auch die erhebliche Menge von Religionen, die einander ähneln bzw. einander ablehnen, zu erklären). Auf diese Weise stellt das menschliche Denken immer wieder Fragen und erhält falsche Antworten, und so entsteht die auf Erkenntnis bezogene künstliche Ambivalenz des Gegensatzpaares „Gott und Mensch“. Damit nehmen die jahrtausendealten theologischen „Leiden“ des Menschen ihren Anfang, und der lebensstiftende Strom der Erkenntnis verliert sich fruchtlos im Wüstensand des „Reichs Gottes“.
Das Problem ist aber sehr einfach: Als auf sich selbst bezogenes System der Erkenntnis, das begrenzt, aber unendlich ist (wie die Erde, das Leben oder das Universum), bleibt das Selbstbewusstsein in all seinen Ausdrucksformen immer mit sich selbst identisch und jede Frage (Subjekt) erhält ihren Sinn nur in Bezug auf irgendeine Antwort (Objekt) innerhalb dieses Systems. Wenn die Antwort auf die Grenze des Systems stößt und notwendigerweise auf die Frage zurückkehrt, erlebt die Frage unvermeidlich eine Selbstnegation und hebt sich auf (Was ist das Sein? – Sein ist Sein; was ist die Energie? – Energie ist Energie usw.). Im Falle des Unwirklichen (Religion, Kultur etc.) gibt es so eine Grenzmöglichkeit der absoluten Äquivalenz, die das Dasein des Objektes unmissverständlich feststellen könnte, nicht. Daher sind die Möglichkeiten zu einer Antwort prinzipiell unbegrenzt (wie bei der Ausbreitung des Lichts in der isotropen Umwelt des Vakuums, wenn es gleichzeitig in allen Richtungen rast, ohne auf ein Hindernis zu stoßen). Da es eine Antwort auf die Hauptfrage: „Was ist Gott?“, nicht gibt und geben kann, erfindet das religiöse Bewusstsein eine bequeme „Begründung“, indem es behauptet: „Gott ist unergründlich!“ Das deckt sich mit den theologischen Aussagen wie: „Gott ist der Schöpfer von Welt und Mensch“, oder: „Gott ist unser himmlischer Vater“, oder: „Gott ist groß“, „Gott ist vollkommen“, „Gott ist Liebe“, „Gott ist Licht“ usw.,– Behauptungen, die gar keinen Sinn ergeben, weil sie nichts darüber verraten, was Gott ist. Es ist vielmehr ein unwillkürliches Geständnis dafür, dass Gott einfach nicht existiert, daher kann es auch keine Erkenntnis des Nicht-Existenten geben. Sie ist ein Trugbild oder ein „Schattenspektakel“.
Das ist der Grund, warum der Religion oder der Kultur nicht die Erkenntnis zugrunde liegt, sondern die Vorstellung (Was unbekannt ist, kann nur vorgestellt werden, aber es ist nicht möglich, es zu erkennen). Daher existieren die Beiden zwangsläufig nur als Bild in Form irgendeiner imaginären Geschichte (Mythos, Märchen, Epos, Gleichnis, Metapher, Vergleich, Analogie etc.). Daraus ergibt sich auch die „Blutsverwandtschaft“ zwischen Religion und Kultur (Kunst, Literatur etc.). Sogar jene Religionen, die keine Mühe sparen, sich als wirklich darzustellen (Judentum, Christentum, Buddhismus, Islam, Zarathustrismus usw.), sind in Wirklichkeit mythologische Geschichten – objektlose Gestaltungsversuche des Unbekannten. Selbstverständlich unterliegen sie auch den Gesetzen des Seins: Wie viele Religionen vor und nach ihnen entstehen sie aus dem Unbekannten, erblühen in der Vorstellung des Menschen, ergreifen eine Weile sein ganzes Wesen als „absolute und ewige Wahrheiten“, dann verblassen sie langsam in der Zeit, versinken letzten Endes wieder im Unbekannten und verschwinden. Die Objektlosigkeit der Erkenntnis ist der Grund dafür, dass all diese Religionen jeder Lebendigkeit bar sind und sich nicht fortpflanzen können, deshalb sind sie zu einer Erneuerung von Natur aus nicht fähig und als für immer gegebene starre Gebilde stellen sie nur einen einmaligen Akt der menschlichen Fantasie dar, immer vergeblich auf eine „zweite Ankunft“ (d.h. Wiedergeburt) hoffend, die wegen der Unumkehrbarkeit der Zeit natürlich nie stattfinden kann. Dasselbe betrifft auch all die großen Werke der Menschheit (wie die von Homer, Shakespeare oder Tolstoi usw.), die zwar „ganz Leben und Geschichte“ sind, aber prinzipiell nicht wirklich sein können, da ihre Ursprungsquelle ausschließlich subjektiv ist (Niemand hat Hamlet je auf den Straßen von Helsingör gedankenverloren spazieren sehen oder plötzlich das totenblasse Gesicht von Anna Karenina erkannt, als sie sich unter den heranfahrenden Zug warf). Daher können diese Geschichten, wie schon erwähnt, keine Bedeutung im Sinne der Evolution, folglich auch der Zivilisation haben. D.h., sie können keine Tatsache des Selbstbewusstseins werden.
Die Zivilisation stellt das evolutionäre Ergebnis des Selbstbewusstseins dar, dem die direkte und unmittelbare Erkenntnis zugrunde liegt, wenn zwischen dem wirklichen Subjekt und dem wirklichen Objekt eine wirkliche Beziehung entsteht. Wo ein Selbstbewusstsein existiert, existiert dort notwendigerweise auch eine Zivilisation.
Das Aufeinanderfolgen und die gegenseitigen Durchdringungen der Religionen beweisen die eindeutige Bedingtheit (die „Schattennatur“) des religiösen Bewusstseins, wenn die unüberwindbare Anziehungskraft der Gesetze des Seins seinen Untergang und letztendlich auch seinen Zusammenbruch verursacht. Der Grund dafür ist, dass das menschliche Denken von Natur aus bestrebt ist, nach einem wirklichen Objekt zu suchen, um den natürlichen Forderungen der ganzheitlichen Reflexion des Selbstbewusstseins gerecht zu werden. Deshalb versucht es unaufhörlich, den „ätherischen“ Schleier des Unwirklichen zu entfernen. Zurücklassend die vergebliche Suche nach den „göttlichen Wahrheiten“, verlässt das Denken letzten Endes den Himmel und kehrt auf die Erde zurück, indem es versucht, wirkliche Antworten auf wirkliche Fragen zu finden (Was ist das Leben? Was ist der Tod? Was ist die Materie? Was ist die Seele? Was ist das Universum, die Natur, der Mensch usw.). So wird die Theologie durch die Wissenschaft ersetzt, die solche „hochenergetischen“ Lichtausbrüche der Erkenntnis auslöst, die den ewigen Ruhm der menschlichen Zivilisation darstellen (wie die altindische, altchinesische, altägyptische, altgriechische, altrömische Philosophie, Naturwissenschaft, Architektur, Technologie, Mathematik usw.). In dieser Erkenntnis drückt sich die universell-unpersönliche Natur des menschlichen Selbstbewusstseins aus, da in evolutionärer Hinsicht keinerlei Bedeutung hat, wann, wo, von wem und aus welchem unmittelbaren Grund das zivilisatorische Wissen, d.h. die wirkliche Erkenntnis, geschaffen wurde (Manche dieser Länder sind nicht mehr da, einige sind da und wirken noch, wieder andere sind zu einer „stummen Statue“ geworden). Um die Geometrie der ägyptischen Pyramiden zu verstehen, ist es überhaupt nicht von Relevanz, welche religiösen Vorstellungen damit verknüpft waren und was für Träume die ägyptischen Könige geträumt hatten: Die Pyramiden an sich sind pure Zivilisation. Dasselbe gilt auch für die gegenwärtige Zivilisation, die sich durch eine noch größere „Anonymität“ auszeichnet: Die an ihrer Entstehung beteiligten westlichen Länder und Völker bringen einzeln keine Zivilisation hervor, diese entsteht erst durch ihre Gemeinsamkeit als europäische Zivilisation und bringt all die erstaunlichen Errungenschaften zustande, die vielleicht die Menschheit auf den Übergang zu einer neuen evolutionären Ära vorbereiten.
Die Zivilisation stellt also ein allumfassendes Prinzip des Seins dar, das wie die Luft die gesamte Erde umhüllt und wie eine Mikrobe tief in das menschliche Leben hineindringt, wo, wie und wann es ihr auch einfällt. Auf diese Weise bringt sie hier und dort ihren „Ansteckungsherd“ zum Vorschein, indem sie gewaltige Ausbrüche der schöpferischen Energie freisetzt, die von Zeit zu Zeit den Himmel des Seins wie Blitze hell beleuchten. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, die Geologie der Entstehung des nächsten „Ansteckungsherdes“ vorauszusagen, da die Zivilisation als Naturphänomen dem Quantenunbestimmtheitsprinzip folgt, wobei der Ort und die Zeit der Erkenntnisausbrüche nicht gleichzeitig bestimmt werden können. Wie die Geschichte der Zivilisation jedoch zeigt, gibt es zwei unveränderliche Größen, deren Zusammenwirken die Entstehung eines Zivilisationsherdes ermöglicht.
Die erste unabdingbare Grundvoraussetzung für die Entstehung eines Zivilisationsherdes ist die Bildung eines staatlichen Systems, die den Naturgesetzen (evolutionäre Auslese) unterliegt. Wenn die menschliche Masse einen gewissen Grenzwert der Stabilität erreicht, organisiert sie sich von selbst zu einer einheitlichen Gemeinschaft (Staatssystem) mit all ihren wirtschaftlichen, politischen, militärischen und anderen Komponenten. Dies wiederholt genauestens die Entstehung von Planeten aus Anhäufungen von interstellaren Gasen, dem Sternstaub, Kometen, Astroiden usw. Die Letzteren sind wegen ihrer ungenügenden Schwerkraft nicht imstande, einen eigenständigen Planeten zu bilden. Die menschlichen Gemeinschaften verhalten sich genauso und sind diesem Gesetz unterworfen. Das ist der Grund, warum die zahlenmäßig ganz kleinen Völker in der Regel keine eigene Staatlichkeit errichten können. Die Politik, die als einziger der menschlichen Tätigkeitsbereichen die evolutionären Naturgesetze ohne religiöse und kulturelle „Beschönigungen“ und unabhängig von jedweder Gesellschaftsform (Demokratie, Diktatur etc.) unverändert in vollem Umfang reflektiert, funktioniert seit Urzeiten mit Rücksicht auf diese naturgegebenen Vorbedingungen. Dieses Gesetz kann auch in gegensätzlicher Richtung wirken, wenn ein abgeschlossenes Staatsystem wegen des Zusammenspiels verschiedener Kräfte untergeht, indem es keine Energiezufuhr zur Aufrechterhaltung seines Gleichgewichts weder von innen noch von außen bekommt und seine „planetare“ Masse zu verlieren beginnt, bis es endlich in zahlreiche kleine Brocken zerfällt.
Für die Bildung eines Zivilisationsherdes ist die stabile Staatlichkeit eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung.
Wie die Geschichte zeigt, gab es in der Vergangenheit und gibt es noch heute zahlreiche mächtige Staatssysteme, die jedoch keine zivilisatorische Kraft zu entfalten vermögen, sondern sich hauptsächlich als Verbraucher der Zivilisation verstehen. Selbstverständlich weisen sie zwangsläufig religiöse bzw. ideologische Eigenschaften auf. D.h., das Unwirkliche (das religiöse Bewusstsein oder die politische Ideologie) spielt eine wichtige Rolle für die Entstehung und Erhaltung dieser Systeme. Solche Staatssysteme können nie einen Zivilisationsherd bilden. Das gilt sowohl für die christlichen und islamischen Staaten des Mittelalters als auch für die späteren Reiche der Mongolen, der Osmanen oder das Russische Zarenreich sowie auch für die Sowjetunion. Das ist der Grund, dass diese Systeme von der Bühne der Weltgeschichte verschwunden sind, ohne eine mehr oder weniger bemerkenswerte Spur der zivilisatorischen Erkenntnis zu hinterlassen.
Ein Zivilisationsherd kann sich nur dann bilden, wenn das relativ stabile Staatssystem mit einer bahnbrechenden Entwicklung des zivilisatorischen Wissens einhergeht, die die menschliche Erkenntnis in allen Richtungen maßgeblich vorantreibt und das Selbstbewusstsein des Menschen und dadurch auch die Grenzen des Seins erweitert. Das glückliche Zusammentreffen- und wirken dieser beiden Voraussetzungen ermöglicht erst in jedem einzelnen Fall die Entstehung eines solchen evolutionären Phänomens, das Zivilisation heißt.
Bis jetzt sind nur eine Handvoll solcher Zivilisationsherde in der Geschichte nachweislich bekannt: Dazu kann man das alte Ägypten, Sumer und Mesopotamien, die griechisch-römische Antike, das alte Indien und China, die Hochkulturen der Maya, Inka und Azteken und in unserer heutigen Zeit die europäisch-westliche Zivilisation zählen. Dass diese Zivilisationsherde nur der Bezeichnung nach mit den Träger-Gesellschaften verbunden und nicht durch ihre nationalen (was auch immer dieses Wort bedeuten mag) Besonderheiten bedingt sind, wird dadurch bewiesen, dass das zivilisatorische Wissen überdauert, unabhängig davon, ob seine Schöpfer tot oder lebendig, aktiv oder inaktiv sind (Z.B., die Nachfolger der altgriechischen Zivilisation sind nicht nur die gegenwärtigen Griechen, sondern auch – hauptsächlich – die europäischen Nationen). Man kann sagen, dass die Zivilisation selbst ihr evolutionäres Erbe bestimmt, indem sie wie eine Mikrobe die nachfolgenden Verbreitungsziele ihrer „Ansteckung“ aussucht.
Das bedeutet, dass die Entwicklung der Zivilisation nicht aufzuhalten ist, genau wie die Drehung jenes Planeten, auf dem sie sich immer mehr und mehr verbreitet.
Ob diese Entwicklung die Menschheit in eine neue evolutionäre Situation hineinversetzen oder ihre totale Vernichtung verursachen wird, ist prinzipiell unmöglich, vorauszusagen.
Dies kann im Umkehrschluss nahelegen, dass das Selbstbewusstsein nichts weiter ist, als eine Art Unbewusstsein.
Dies könnte eventuell die Tür für eine neue Wirklichkeit auftun, in der es nicht mehr wichtig ist, ob etwas existiert oder nicht – eine Welt der subjekt- und objektlosen Erkenntnis, eines reinen Wissens.
Bis dahin ist und bleibt das Selbstbewusstsein die einzig mögliche Erkenntnis.
16.06.2023
Jerewan
©Sevak Aramazd
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Todesvision: Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915-1945). Herausgegeben von Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian. Aus dem Armenischen übersetzt von Gerayer Koutcharian, nachgedichtet von Tessa Hofmann und illustriert von Choren Hakobyan. Donat Verlag, 2020,
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