Sevak Aramazd, GEBURT DER DICHTUNG

14.07.2021

(Vorwort des Autors zur russischen Ausgabe des Gedichtbandes „Unverschlossener Kreis“, Olma-Press, Moskau, 2003)

 

Wenn sich zwei Menschen zufällig zusammentreffen, grüßen sie sich gegenseitig und fragen nach den letzten Neuigkeiten. Einer von ihnen mag der Autor dieses Buches sein, der einen umfassenden Anfang für sein Buch sucht. Der andere mag sein Leser sein, der ihm Folgendes erzählen könnte:

 

„Es war einmal eine Zeit, als die Menschen nicht zu sprechen brauchten. Sie waren ein harmonischer Teil eines großen und lebendigen geistigen Universums, dessen einzige Sprache die Stille war. Die Menschen sprachen nicht, da sie alle, ohne Ausnahme, die Wahrheit wussten. Denn sie selbst waren ein Teil der Wahrheit.

 

Dann geschah es, diese Zeit ging zugrunde und wurde von einer dicken und undurchdringlichen Schicht des Eises begraben. Die Menschen verloren die Wahrheit und begannen nach ihr zu suchen. Aus dem Drang, die Wahrheit wieder zu finden, wurde das Wort geboren. Die Menschen fingen an, die Wahrheit mit dem Wort ‚Gott’ zu bezeichnen, und aus diesem Wort gingen alle bekannten und unbekannten Götter hervor.

 

Das Wort begann sich zu vermehren und je weiter es sich verbreitete und je umfangreicher es wurde, desto mehr und mehr entfernten sich die Menschen von der Wahrheit. Es kam der Augenblick, als die Menschen auf der Suche nach der Wahrheit überall auf das Wort stießen. Eines Tages entdeckten sie mit Verwunderung, dass alles Wort war und sie selbst auch ein Teil des Wortes waren. 

 

So verloren sie die Wahrheit und begannen Gott im Wort zu suchen, da sie meinten, dass Gott die Wahrheit selbst wäre. Auf diese Weise identifizierten sie Gott mit der Wahrheit und verloren ebenso Gott.

 

Um Gott wieder zu finden, erfanden die Menschen die Schrift. Sie glaubten, sie könnten anhand der Schrift Gott erreichen, doch mussten sie mit Verwunderung feststellen, dass es nur Schrift gab. Diesmal identifizierten sie die Schrift mit Gott und sagten, die Schrift wäre Gott selbst. Und sie verloren auch die Schrift.

 

Um die Schrift wieder zu finden, fingen die Menschen an, alle geheimen und offensichtlichen Ecken der Erde aufzuwühlen und erfanden die sogenannten Weltreligionen. Diesmal identifizierten sie die Religionen mit der Schrift und erklärten, diese Religionen wären die Schrift selbst. Da die Schrift aber nur eine war und die Religionen viele, erhoben sich dann alle gegen alle, und die Menschen verloren auch die Religionen.

 

Als es nichts mehr zu finden noch zu verlieren gab, zogen sich die Menschen in sich zurück und wurden still.

 

Und in der Stille hörten, sahen, fühlten, berührten und begriffen sie plötzlich die Wahrheit.

 

Und wunderten sich sehr...

 

Aus der Verwunderung wurde das Lied geboren.

 

Und dieses Lied ist die Dichtung selbst.“

 

31.07.2003

 

 (Aus dem Armenischen übersetzt vom Autor)


© Sevak Aramazd

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