Sevak Aramazd, TODESVISION. MEHR ALS WIRKLICHKEIT
Kriege, Verwüstungen, Eroberungen und Plünderungen haben die Welt seit Menschengedenken immer wieder geprägt und werden sie anscheinend noch lange Zeit begleiten. Das liegt an der Natur der Dinge, in der eine geheimnisvolle Zerstörungskraft namens Entropie ständig am Werke ist, die jedoch notwendigerweise ihren Gegensatz hervorruft, nämlich das Gesetz des Gleichgewichts, des Friedens und der Harmonie. Zwischen diesen beiden Spannungspolen schwankt die Menschheitsgeschichte hin und her, hin und her…
Es gibt jedoch ein menschengemachtes Phänomen, das in der Natur so nicht vorkommt: der Genozid. Er setzt an, wenn ein Volk ganz oder teilweise zielgerichtet vernichtet wird. Evolutionär gesehen besteht dafür keine natürliche Notwendigkeit und daher stellt das Phänomen des Völkermordes ein Absurdum dar, bei dem die Zerstörungskraft als Absolute auftritt. Das ist auch der Grund, warum der Genozid aus ontologischer Sicht nur bei der Tierart Mensch ansetzen kann, die die Freiheit besitzt, ihre Vernunftbegabung zu missbrauchen, indem sie willkürlich in die Naturgesetze eingreift und versucht, durch ihren subjektiven Machtwillen den Lauf der Dinge von Grund auf gewaltsam zu bestimmen. Deshalb stellt der Genozid etwas Unnatürliches und Gesetzloses dar und verletzt zutiefst die Würde der Natur. Der durch ihn verursachte Schmerz ist eben deswegen ungeheuerlich, existenziell unfassbar und nicht durch wissenschaftliche Erforschung, politische Begründung oder geschichtliche Beweisführung zu erklären, geschweige denn zu lindern oder zu heilen.
Als ich vor einem Jahr das Buch „Todesvision: Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915-1945)“* von Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian in die Hand nahm, fasste ich den festen Entschluss, mich den darin gesammelten Werken der armenischen Autoren, die dem Völkermord an den Armeniern zum Opfer gefallen waren, aus einer rein literarischen Perspektive zu nähern, ohne dabei das mir wohlbekannte tragische Schicksal der Dichter in die Lektüre einzubeziehen. Da ich in meiner Jugend bereits alle Tränen diesbezüglich geweint hatte, dachte ich, ich könnte jetzt eine gewisse Distanz zu diesem Thema bewahren und nüchtern feststellen, wie diese Texte ihren dichterischen Klang in der deutschen Sprache wiederfinden.
Dass mir dies nicht gelang, ist auf die akribische, professionelle und sehr leidenschaftliche Arbeit der Herausgeber des Buches, der bekannten Armenistin und Menschenrechtlerin Tessa Hofmann (Nachdichtung) und Gerayer Koutcharian (Übersetzung), zurückzuführen, die es geschafft haben, nicht nur die künstlerische Tragweite der äußerst vielfältigen westarmenischen Literatur jener Zeit, sondern auch das gesamte Ausmaß des Elitizids abzubilden. Das Buch beginnt mit einer Einleitung, die eigentlich nicht zum Abschluss kommt, sondern fließend in die Darstellung der einzelnen Schicksale der Autoren übergeht. Dabei wird für den Leser ein vollumfängliches Bild der Herkunft, des literarischen Schaffens und der bitteren Todesumstände der einzelnen Autoren gezeichnet, häufig bekräftigt durch Augenzeugenberichte, Kommentare und Quellennachweise, die dem Leser auch eine politisch-geschichtliche Einordnung des Elitizids als Schlüsselaspekt des Genozids an den Armeniern ermöglichen.
Besonders gelungen ist in diesem Zusammenhang die Auswahl der Autoren, die auch deswegen eine besondere Erwähnung verdient, weil jenem schicksalsträchtigen 24. April 1915 – dem Beginn der Verhaftung und Ermordung der armenischen Führungsschicht in Konstantinopel – und den Wochen und Monaten danach mehrere hundert Intellektuelle, darunter sehr viele Dichter und Schriftsteller, zum Opfer fielen. Von diesen sind fast ein Dutzend im Buch vertreten, wohl auch stellvertretend für die anderen. Das sind die Namen, die bis heute als Klassiker der armenischen Literatur gelten – durch das Erdbeben des Genozids eingestürzte Gipfel des Armenischen Hochlands: Komitas, Artasches Harutjunjan, Siamanto, Wahan Tekejan, Daniel Waruschan, Ruben Sewak, Jeruchan, Grigor Sohrap, Ruben Sardarjan, Sapel Jessajan, Intra.
Die Anthologie enthält von jedem Autor einige Werke, die sich teilweise auf die Verfolgungen und Massenmorde an den Armeniern in den Jahren 1894-1896 sowie 1908-1909 beziehen, in denen die Methodik der systematischen Vertreibung und Ermordung der Armenier von der osmanischen Regierung als „Vorlauf“ zum großen Genozid von 1915 erprobt und optimiert wurde. Das ist der Grund, warum sich die Bilder, die die im Buch vertretenen Autoren von diesen Ereignissen zeichnen, kaum von denen unterscheiden, die sich später und bis heute in der armenischen und auch internationalen Literatur zum Völkermord von 1915 wiederfinden. Ein typisches Beispiel dafür ist das Gedicht „Todesvision“ von Siamanto, an das auch der Titel des Buches anlehnt: „Gemetzel, Blutbad, Massenmord./Durch unsere Städte, unser Land/ ziehen Mörder mit Beute und Blut/zwischen Toten und Sterbenden umher…“ Die Autoren, die den Genozid irgendwie überlebten, litten ein Leben lang unter seinen Folgen und versuchten, nachzuholen, was ihre ermordeten Dichterkollegen nicht mehr schaffen konnten. Manche von Ihnen, wie Sapel Jessajan – eine mutige Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, die in jeder Hinsicht ihrer Zeit weit voraus war – oder Vahan Totovents, fielen dem zweiten Elitizid, dem stalinistischen Terror von 1937, zum Opfer. Der Begründer der modernen armenischen klassischen Musik, Komitas, versank in tiefe Stummheit, so tief wie die unergründliche Schönheit seiner Kompositionen. Wahan Tekejan suchte zeitlebens nach der Antwort auf das „warum“ und wurde von der Scham für das eigene Überleben geprägt...
Die Übersetzungen der westarmenischen Dichtung und Prosa durch Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian verschaffen dem Leser nicht nur eine Übersicht über die Motive, Genres und Themen dieser Literatur, sondern ermöglichen es ihm auch, die stilistische Vielfalt, Metrik, die Formen und die Intonation der ausgesuchten Werke nachzuempfinden. Wir haben es hier also mit einer ganz eigenständigen und eigentümlichen Schöpfung des menschlichen Geistes zu tun und nicht etwa mit Texten, deren alleinige Aufgabe es ist, den historischen Hintergrund der Geschehnisse wiederzugeben und literarisch zu untermauern. Begleitet werden die Texte von den Illustrationen des Künstlers Choren Hakobyan, der die Opfer in mild-blassen Farbtönen – gleichsam als stumme Zeugen der eigenen tragischen Schicksale – porträtiert. Auf dem Buchumschlag ist wiederum das Bild „Ani“ des deutschen Malers Tilman Rothermel abgebildet, das die Unfassbarkeit und den lebendigen Schrecken des Völkermords in Gestalt eines zusammenkauernden und gen Himmel schreienden Menschen vor dem Hintergrund des von schwarzen Wolken überzogenen Ararat ausdrucksvoll widerspiegelt. An dieser Stelle ist zudem die bedeutende Leistung des Donat Verlags hervorzuheben, der die Thematik des Völkermordes an den Armeniern seit Jahren dem deutschen Leser durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen näher bringt.
Bei der Lektüre des Buches wird die rein ästhetische Genugtuung, die man aus echter Literatur gewinnen kann, unablässig von dem spontanen Gedanken verfolgt, wie schön es wäre, wenn diese Lyrik und Prosa nicht im Zusammenhang mit dem Genozid und den Verfolgungen stünden und man sie einfach als Dichtung genießen könnte! Aber der Bezug ist zu direkt und stechend unverkennbar, sodass man bei manchen Werken (z.B. „Todesvision“ von Siamanto, „Armenien“ von Ruben Sewak, „In den Ruinen“ von Sapel Jessajan) sogar unwillkürlich den Eindruck gewinnt, sie seien erst im Nachhinein, nach der Ermordung ihrer Autoren verfasst worden. So wurde auch ich von der ungeheuerlichen Realität des Geschehenen wieder eingeholt und die nicht vernarben wollende Wunde aufs Neue aufgerissen. Sich mit all diesen herzzerreißenden und grausamen Schicksalen und Ereignissen auseinanderzusetzen und dennoch sachlich zu bleiben, erfordert Mut und viel Moral. Auch deswegen ist das Buch etwas Besonderes. Und auch wenn die Werke der armenischen Autoren und die sorgsam herausgearbeiteten Biographien und Kommentare den Leser mit der Todesvision des Völkermordes konfrontieren und mitunter das Gefühl vermitteln, unaufhörlich ins Bodenlose zu fallen, wo Verlust, Trauer, Täter und Opfer, Gott und Mensch augenblicklich ihren Sinn verlieren, so bergen die Verbreitung und Wahrung dieser Literatur und das Gedenken ihrer Schöpfer gleichzeitig die einzige Möglichkeit, sich vor diesem schwarzen Abgrund der menschlichen Existenz irgendwie zu retten. Eine bittere, aber – wie ich finde – wichtige Erfahrung.
© Sevak Aramazd