Schöpferischer Prozess: Der Literaturwissenschaftler HOVHANNES AYVAZYAN interviewt SEVAK ARAMAZD.
Aus dem Armenischen übersetzt vom Autor
(Die armenische Originalfassung: http://granish.org/sevak-aramazd-harcazruc)
- Wer ist der Schriftsteller? Was macht er? Warum schreibt er?
- Als ich sehr klein war, war die Welt für mich eine strahlende Grenzenlosigkeit.
Als ich entdeckte, dass die Welt einen Anfang und ein Ende hat, es Leben und Tod gibt, Glück und Unglück, erlosch in mir dieses lichte Gefühl unwiederbringlich. Ich fühlte jedoch instinktiv, dass dies nicht wahr sein könnte, und ich wollte mich nicht mit diesem Verlust abfinden. Mit ganzer Kraft bemühte ich mich immer wieder, dieses ursprüngliche wunderbare Gefühl der Grenzenlosigkeit zurückzugewinnen. In diesem Augenblick, denke ich, war in mir der Schriftsteller geboren und meine „Aufgabe“ hat sich bis jetzt kaum geändert.
- Was ist die Literatur?
- Die Literatur ist ein Versuch, den Menschen unaufhörlich an die Grenzenlosigkeit oder – um einen verständlicheren Begriff zu benutzen – an die Wahrheit zu erinnern. Die Literatur nimmt einen Gegenstand, ein Bild, eine göttliche Gestalt, das Schicksal eines Menschen und bietet diese dem Menschen an und sagt, das sei die Grenzenlosigkeit und er könne darin seine gewünschte Wahrheit finden.
Meines Erachtens reflektiert die Literatur das Leben nicht, sondern sie lässt das Leben entstehen. Dies ist jene neutrale Linie, die die gegenseitigen Ströme der Straße voneinander trennt und gleichzeitig vereint; die Straße wird dann zu einem Weg, der, welche Form und Gestalt er auch annimmt, unbeirrt zur Wahrheit führt.
- Was für eine Rolle spielen die Literatur und der Schriftsteller im Leben der Menschheit?
- Im Leben der Menschheit nehmen die Literatur und der Schriftsteller keine Sonderrolle ein. Ihre einzige Rolle ist es, Schriftsteller und Literatur zu sein. Wie alles auf Erden ist beides natürlicher Bestandteil des Daseins.
- Wie stehst du als Schriftsteller zum übrigen Teil der Menschheit?
- Zum übrigen Teil der Menschheit stehe ich in derselben Beziehung, in der ich mit mir selbst stehe. In jedem Menschen steckt die ganze Menschheit.
- Ist das Schaffen eine Freude oder eine Qual oder eine Heldentat…? Ein Selbstausdrucksmittel? Eine Bemühung, sich selbst vor der Vergessenheit der Zeit zu retten?
- Menschlich gesehen, gibt es keinen größeren Fluch und keine grausamere Strafe, als ein armenischer Schriftsteller zu sein und gleichzeitig kein größeres Glück, als in armenischer Sprache schöpferisch tätig zu sein.
Die Zeit selbst ist die Vergessenheit. Nur die Wahrheit ist immer wach. Dies reicht völlig aus, um sich restlos glücklich zu fühlen.
- Goethe hat einmal gesagt: „In jedem Kunstwerk, ob groß oder klein, hängt alles, bis zu letzten Kleinigkeiten, von der Idee des Werkes ab“. Fangen wir hiermit an: wie wird die Idee eines Kunstwerks geboren?
- Ich lebe mein Leben, d.h. das Leben der Welt. Ich besitze nicht das Bewusstsein, „offiziell“ Schriftsteller zu sein. Ich lebe mein Leben als jemand, der seinen täglichen Pflichten nachgeht, doch mit einem inneren Gefühl zweifellos weiß, dass er besucht werden wird. Es ist ungewiss, wer es sein wird, doch er weiß, dass jemand kommen wird. Und wenn er irgendwann das leise, beinahe unhörbare Klopfen an der Tür wahrnimmt, macht er die Tür sofort auf und erst dann erkennt er seinen Gast. „Ach, du bist es!“ sagt er und lädt den Gast ein, Platz zu nehmen. Und die Unterhaltung beginnt. Aber manchmal kommt es vor, dass es ringsum halbdunkel ist, und ihm erst nach einer gewissen Zeit der Unterhaltung plötzlich einfällt, wer ihm gegenüber sitzt. Man sollte immer beachten, dass das Kunstwerk genauso ein lebendiges Wesen wie sein Schöpfer ist.
- Die Idee ist da, du willst etwas schreiben… Stellst du dir das neue Werk etwa in undeutlichen allgemeinen Zügen oder in klaren und konkreten Einzelheiten vor? Wie gestaltest und ordnest du das Material, bevor du mit der Niederschrift beginnst? Wie baust du die Komposition deines künftigen Romans oder deines Gedichts auf?
- Meines Erachtens ist der Begriff „Idee“ in Bezug auf das Schaffen nicht so passend, um den intuitiven Einfall bei der Entstehung eines Kunstwerks zu bezeichnen. Denn dieser Begriff setzt eher einen gedanklichen Vorgang voraus, der den Gegenstand des noch nicht geborenen Werkes umreißt und ihn verstandsmäßig beschreibt. Somit bewegt sich die „Idee“ hauptsächlich auf der Ebene des Denkens. Die Geburt eines Kunstwerks ist jedoch ein schöpferischer Akt, der im Grunde mit der permanenten Selbst-Schöpfung des Seins identisch ist. Richtiger wäre es, wenn man auch hinsichtlich der Entstehung eines Kunstwerks den Begriff „Schöpfung“ verwenden würde. Denn sogar im platonischen Sinne kann die „Idee“ nicht der Schöpfung vorausgehen und die Schöpfung ihrerseits kann nicht aus der „Idee“ entstehen, so wie die Sonne nicht ihrem eigenen Strahl entspringen kann.
Bildlich gesprochen, ist die Schöpfung der Strahl der Wahrheit, von dem der seinen Alltagssorgen nachgehende Schriftsteller wie von einem Blitz getroffen wird und der in ihm den Wunsch weckt, sich schöpferisch zu betätigen. Und es ist unmöglich, die Wucht und Schlagrichtung des Blitzes, seine Form und den Augenblick der Explosion, Donner und Echo im Voraus zu „planen“ oder zu „entwerfen“. Wie auch der Blitz „gestaltet“ sich das Kunstwerk von selbst und der Weg, den er einzuschlagen hat, ist nicht voraussehbar. Das ist nämlich die uns aus unserer Erfahrung wohl bekannte Unerkennbarkeit des Seins, das Große Unbekannte, ohne das nichts existieren könnte, weder Leben und Welt noch Mensch und Gott. Es gibt kein echtes Kunstwerk, weder ein menschliches noch ein göttliches, das nach einem „Plan“ entstanden wäre. Dies bezeugen auch die widersprüchliche und turbulente Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der sogenannten „von Gott gegebenen“ Heiligen Bücher aller Religionen. Das Gleiche gilt auch für die Wissenschaft.
- Anfang und Ende. Sind die ersten Wörter am wichtigsten? Fällt es dir schwer, mit dem Schreiben zu beginnen? Gehst du fieberhaft mit deinem Kopf in den Händen in deinem Arbeitszimmer hin und her, rauchst eine Zigarette nach der anderen… bis irgendwann die erste Zeile kommt…?
- Offen gesagt, habe ich nie an die Gestalt des Dichters geglaubt, der im Fieber der Eingebung im Arbeitszimmer auf- und abgeht und überhaupt seinen Beitrag zum Thema „Verrücktheit und Genialität“ mit großer Sorgfalt leistet (Wie das Leben zeigt, kalkulieren diese Menschen mit buchhalterischer Genauigkeit, was sie tun, wie sie es tun, wozu und für wen). Größtenteils habe ich meine Werke sozusagen unterwegs, aus dem Stegreif geschrieben, sehr oft unter solchen Lebensumständen, die eigentlich jedwede Möglichkeit, sich mit der schöpferischen Tätigkeit zu befassen, dauerhaft ausgeschlossen haben. Sonst müsste ich nichts geschaffen haben, unabhängig davon, wie oft und mit welcher Wucht ich mein Arbeitszimmer „vermessen“ hätte. Ich denke, jeder Schriftsteller sollte sein menschliches Ego, das Ego seines Lebens, vergessen, um einen Weg zum Schaffen zu ebnen. Denn das Schaffen an sich stellt eine Bewegung vom Ego zum Selbst dar. Mit dem Vorbehalt freilich, dass der Schriftsteller als Mensch bestrebt ist, sich selbst durch das Wort zu überwinden.
- Die drei Romane, die ich von dir gelesen habe, fängst du mit einer ruhigen Alltagssituation an, bringst sie dann im weiteren Verlauf zur Entfaltung, lässt sie zum Schluss eine herabstürzende Geschwindigkeit entwickeln und zu einem symbolträchtigen Gesamtbild werden. Deine Figuren werden individuell-allgemeingültig, so sind dein Armen, Areg, die Figuren deines noch nicht publizierten Romans „Der Tag Gottes“. Die Welt deines Romans wird wirklich-unwirklich, mit einem nebelhaften mystischen Schleier bedeckt, das Werk hebt sich vom Boden ab, steigt langsam und langsam zum Himmel auf und nimmt dabei den Leser auch mit nach oben…
- Wie alle Wesen dieser Welt unterliegt auch der Schriftsteller den unaufhörlichen stürmischen Wellen des Lebens, Ebbe und Flut. Unabhängig vom Willen und Denken des Schriftstellers überlagern sich während dieser Zeit in seinem Inneren tausende kleine Schöpfungseinfälle. In diesem Zustand ist alles da und zugleich nicht da. In dem Augenblick, in dem der Schriftsteller die Gesamtheit dieser Einfälle in sich spürt, leuchtet das erste Wort des Werkes auf, das immer zugleich auch das letzte ist. Und dieses eine Ur-Wort umschließt sowohl den Anfang als auch den Verlauf als auch das Ende des Werkes. Es ist der eigentliche Samen der Schöpfung, dessen Entität wie z.B. im Falle eines Baumes nur dann zu erkennen ist, wenn er aus dem Boden aufsprießt und sich zu einem bestimmten Baum entfaltet. Auf diese Weise erreicht das Werk die Vollendung, das Ur-Wort „verschwindet spurlos“ und hinterlässt ein grenzenloses seliges Gefühl der Erkenntnis. Der Schriftsteller, sowohl als Autor als auch als Leser, also als Mensch erlangt plötzlich die Wahrheit. Dies ist nämlich das Erlebnis der Selbstüberwindung, um deine Worte zu benutzen, der Augenblick des „Sich-vom-Boden- Erhebens“ und des „Aufstiegs zum Himmel“.
- Ist es schwierig, dies alles zustande zu bringen? Fällt dir das Schreiben überhaupt schwer? Oder kommt dein Füller kaum hinterher, deinem Denken zu folgen?
- Ich kann nicht behaupten, dass es schwierig ist oder leicht: Ich kann nur sagen: es wird geschrieben…
Und es ist überhaupt nicht nötig, dem Denken hinterherzulaufen, weil die größte Gefahr gerade dem Denken entspringt. Meines Erachtens stellt das Denken die größte Versuchung für einen Schriftsteller dar. Es erreicht nur derjenige das Ufer, der es vermag, die Verführung des Denkens zu überwinden.
- Wann setzt du einen Endpunkt? Wie entscheidest du, dass die Zeit gekommen ist, das abgeschlossene Werk beiseite zu schieben?
- Wenn ich unbeirrt die ganzheitliche, d.h. lebendige Anwesenheit des Werkes spüre. Der Gast schließt seine Erzählung ab und einen Moment herrscht eine Stille, in der sein ruhiger und gleichmäßiger Atem zu hören ist. Dies zeigt, dass unsere Unterhaltung erfolgreich beendet ist. Wir beide stehen dann auf, reichen einander herzlich die Hand, bedanken uns beieinander und nehmen voneinander Abschied.
- Überarbeiten, berichtigen, hinzufügen, streichen… Nachdem du mit dem Schreiben fertig bist, atmest du vielleicht erleichtert auf, deine strapazierten Nerven beginnen sich zu entspannen, aus dem schöpferischen Zustand kommst du nach und nach heraus und nimmst die Aufgaben des alltäglichen-weltlichen Lebens wieder auf, bis die Tinte des Geschriebenen getrocknet ist. Dann fängst du an, es zu überarbeiten, oder...? Tschechow war der Meinung, dass „die Kunst des Schreibens die Kunst des Streichens sei“. Du hast mir mal gesagt, dass du z. B. im Roman „Berg der Sonne“ etwa 200 Seiten gestrichen hast, wenn nicht noch mehr. War es nicht schade? Warst du danach nicht traurig? Wie gehst du überhaupt bei der Überarbeitung vor?
- Nachdem sich der Schriftsteller von seinem Gast mit einem freundlichen Lächeln verabschiedet und hinter ihm die Tür leise schließt, dreht er sich um und wird unwillkürlich nachdenklich. Er beginnt über dieses Treffen zu grübeln. Ihm fallen plötzlich einige Einzelheiten des Treffens stechend klar ein und er spürt den Schatten einer unbestimmten Aufregung auf seinem Gesicht huschen. Die Zufriedenheit der ersten Minuten wird nach und nach von dem Gefühl einer gewissen Enttäuschung abgelöst und er kommt sich betrogen vor. Ihn packt plötzlich das Entsetzen: Einen Augenblick lang kommt es ihm so vor, als gebe es ihn nicht mehr, als sitzen Leben und Tod dicht beieinander und lesen gemeinsam sein Werk im schwachen Licht; das Leben grinst kaum merkbar und der Tod lächelt breit… Und der unumstößliche Wunsch, alles zu vernichten, beherrscht den Schriftsteller. Er rüstet sich mit den Werkzeugen des Denkens, der Erfahrung, der Kenntnisse auf und ohne zu warten, dass die Tinte der Niederschrift getrocknet ist, greift er mit heftiger Eifersucht das vom Gast hinterlassene „Erbe“ an und beginnt buchstäblich mit der durch die eigene Hand niedergeschriebenen Geschichte abzurechnen. Ich lese die Geschichte zehn, zwanzig, hundert Mal, bis sie in Absurdität mündet und das Werk in der absoluten Leere erscheint. Dann zieh ich mich ermüdet zurück und beobachte mit einem gleichgültig-sinnlosen Blick, wie das Werk nach und nach, Detail um Detail wie aus dem Nichts von selbst entsteht. Bei diesem Vorgang treten dann allerlei Fehler und Übertreibungen, überflüssige Details und Ungereimtheiten ungewöhnlich klar zu Tage…
- „Die Wörter stellen die vom Menschen erfundene stärkste Droge dar“: Dieser scharfsinnige Vergleich stammt von Rudyard Kipling. Arbeit mit der Wort-Droge. Ist die Suche nach dem einzigen Wort oder die Wahl desselben für dich eine Qual? Kaust du auf dem Stift herum? Wenn du an deinem Werk arbeitest, zerknitterst und zerreißt du viele Seiten Papier? Schmeißt du sie in den Papierkorb? Reißt du dir die Haare raus? Schreibst du übrigens mit einem Füller oder mit einem Computer?
- Abgesehen von einigen Fällen, in denen das gesuchte Wort erst fünf oder zehn Jahre später plötzlich auftaucht, suche ich nie nach Wörtern: Die armenische Sprache umspült mich wie ein Wasserfall, so dass ich manchmal beängstigt ausweichen muss, um in ihren herabstürzenden Wellen nicht zu ertrinken. Ich denke, dass es eigentlich um die Wortwahl geht. Aber dies verursacht mir auch fast keine Schwierigkeiten. Denn meines Erachtens trifft im Grunde nicht der Schriftsteller die Wortwahl seines Werkes, sondern das Wort selbst entscheidet, wie, wann und in welcher Gestalt es am besten auftritt. Ich sitze still da und beobachte, wie das Werk immer wieder Kleider anprobiert wie eine Frau, sie an- und auszieht. Dies dauert lediglich eine kurze Sekunde, die mir aber grenzenlosen Spaß bereitet. Natürlich gerät manchmal auch das Werk in Verlegenheit, nicht wissend, welche Wahl die beste ist. Um seine Nacktheit zu bedecken, biete ich ihm in solchen Situationen ein zufälliges Kleid an, möglichst das schlimmste und das unpassendste, damit ich mich selbst später bei der Wahl des allerbesten nicht in Verwirrung bringe. Dies ist der Grund, warum ich mit einem Computer arbeite, sowohl im direkten als auch im metaphorischen Sinne des Wortes.
- Das Werk ist vollendet, geschliffen und dekoriert. Es ist Zeit, es an die Öffentlichkeit zu bringen. Du hast es publiziert. Es wird schon dem Leser in die Hand gegeben. Wie stehst du in dieser Phase zu deinem Werk? Hast du es vergessen oder verfolgst du es? Hilfst du deinem Buch oder gibst du es seinem Schicksal preis? Mag es doch selbst seinen Weg zu den Herzen der Leser ebnen…!
- Ich bereite den Weg meines Buches vor und begleite es bis zur Tür. Dann komme ich zurück und wende mich meiner weiteren Arbeit zu. Manchmal erinnere ich mich mit einer vertrauten Liebe an mein Werk wie an einen Verwandten, der in der Ferne ist…
- Eingebung oder mühselige Arbeit? Welche Kraft treibt dein Werk voran? Wartest du, bis ein Zittern deinen Körper durchdringt oder sich ein heiliges Beben im Herzen kundtut, das die Ankunft der Muse verrät, damit du zum Schreibtisch gehst? Oder wirst du jeden Morgen wach, ziehst dich an, wäschst dich und setzt dich an deinen Schreibtisch?
- Jeden Morgen werde ich wach, ziehe mich an, wasche mich und… stürze aus dem Hause, um pünktlich am Arbeitsplatz zu sein. Was das Werk betrifft: Nur die Kraft der Wahrheit bringt ein Werk hervor und treibt es voran, d.h. jenes innere Gefühl und die Überzeugung, dass das, was du machst, wahr ist und keine Alternative hat. Dies hängt nicht von den Umständen ab und setzt das Vorhandensein von Papier und Tisch nicht unbedingt voraus: Es ist nur die Anwesenheit des Autors zwingend. Alles andere liegt im Bereich der Alltagssorgen und bezieht sich lediglich auf den inneren Haushalt des Schriftstellers.
- Du sagst, du habest den Roman „Berg der Sonne“ fünfmal von neuem geschrieben. Auf dem Schreibtisch von Levon Khechoyan (armen. Gegenwartsautor,- Anmerk. d. Übersetzers) habe ich sechs oder sieben Fassungen von seinem Roman „Die Tür von Mher“ gesehen. Es wird über Tolstoi erzählt, er habe seinen Roman „Krieg und Frieden“ bis zu zwanzigmal neugeschrieben und auch in der Druckerei fortgesetzt, weiterhin Veränderungen an seinem endgültigen Romantext vorzunehmen. Er habe so oft den Satz immer wieder zusammensetzen und auseinanderbringen lassen, dass der Besitzer der Druckerei eine Klage gegen das Genie bei Gericht erhoben habe. Gut, aber warum ist es nicht möglich, es mit einem Mal zum Ausdruck zu bringen, was man sagen möchte? Der Mensch entwirft, baut und bezieht sein Haus ja auch nur einmal und nicht immer wieder…
- Im Heiligen Buch der Mayas „Popol Vuh“ (dt. „Buch des Rates“) versucht Gott den Menschen zu erschaffen und scheitert daran zweimal. Es gelingt ihm erst beim dritten Versuch, den Menschen in der jetzigen bekannten Gestalt hervorzubringen. Ob verdeckt oder offen, gilt dasselbe auch für alle anderen Heiligen Bücher.
Das Geschöpf ahmt zwingend seinen Schöpfer nach. Im Wesen aber sind sie identisch, sonst würden die beiden nicht existieren.
- Hast du Angst vor dem leerem Papier? Unter dieser Berufskrankheit haben viele Schriftsteller gelitten, z.B. Garcia Marquez.
- In meinem Fall tritt das Papier erst als Allerletztes auf. Wenn das Werk mich nicht besuchen möchte, rufe ich es niemals herbei: Ich respektiere seine Freiheit und es meine. Von Kind auf schreibe ich nie ein Gedicht nieder; ich lasse jedes Werk, unabhängig von seinem Umfang, bis zum letzten Laut in mir entstehen und bringe es erst dann zu Papier. Was die Prosa anbelangt, so schreibe ich einige Seiten in meinem Inneren, die für das Sein und Nichtsein des Werkes entscheidend sind, bevor ich eine extreme Notwendigkeit spüre, es niederzuschreiben. Wenn der Gast die eigentliche Geschichte zu erzählen beginnt, setzt dann auch die Niederschrift an. Menschlich gesehen habe ich nur davor Angst, dass die Stimme des Gastes in einem von draußen hereinbrechenden Lärm untergehen und ich nicht hören könnte, was er mir sagen wollte.
- Beim Schreiben lebt der Schriftsteller in zwei Welten, in zwei Zeit- und Raumdimensionen, in zwei Wirklichkeiten. Die eine Welt und Wirklichkeit ist die von ihm erfundene, die andere, die reale, gehört allen. Ist es schwierig gleichzeitig in zwei Wirklichkeiten zu leben?
- Ja, der Schriftsteller lebt in zwei Welten, doch die Frage ist nicht, ob dies ihm schwer oder leicht fällt, sondern welche dieser beiden Welten die wirkliche ist…?
Wenn der Schriftsteller versucht, diese Frage zu beantworten, scheitert sein Werk daran. Aber wenn er darauf verzichtet, entsteht die Antwort von selbst.
- Du hast Gedichte geschrieben, wunderbare Gedichtbände in Armenisch und in Russisch herausgebracht. Dann bist zur Prosa übergegangen und hast deine glänzenden Romane geschaffen. Es schien, du hättest die Dichtung vergessen: Es war eine Verlockung der jungen Jahre, die kam und verging. Doch jetzt sagst du, die Dichtung sei wieder da und zwar vom Umfang eines Gedichtbandes…
- Zwölf Jahre lang hatte ich kein einziges Gedicht, keine einzige Zeile geschrieben. Ich wusste jedoch nicht, wie und woher eine Zeile aufgetaucht war und unaufhörlich wie eine unbemerkt ins Haus hineingeflogene Biene in meinem Kopf kreiste. Jeden Tag, jede Stunde stach dieser ungebetene Gast in mein Gehirn mit seinem eintönigen Summen in unterschiedlichsten Situationen: beim Sprechen, beim Schweigen, im Schlaf und im Traum und das Wichtigste, absolut ohne jeglichen Grund: „Ich wandere vor den Türen des Todes… Ich wandere vor den Türen des Todes… Ich wandere vor den Türen des Todes…„. Dies wurde gleichsam zu einer Krankheit, die ich jahrelang mitschleppen musste. An einem Frühlingstag, als es dämmerte, fiel es mir plötzlich ein, dass mich diese Zeile am ganzen Tag kein einziges Mal besucht hatte. „Kann es sein, dass etwas passiert ist?“ fragte ich mich beinahe alarmiert, als ein Gedicht in meinem Inneren aufblitzte:
Die Geburt
Im Schoß meiner Seele, wie im Meer
Schwimmt der Keim, sternförmiger Gott,
Er wächst heran immer mehr und mehr,
Ist er geboren, bin ich gleich tot.“
(Übersetzung vom Autor)
So flog die Biene aus dem aufgerissenen Fenster hinaus und verschwand im selben Augenblick. Sie hinterließ tausende verworrene Spuren ihrer zwölfjährigen unsichtbaren und kreisförmigen Flugbahn in meiner Seele, die nach und nach in Form von Gedichtzeilen in der klaren Luft in Erscheinung traten. Mein neues Gedichtbuch war geboren.
- Wie stehst du zum Problem des literarischen Einflusses? Deine Romane z.B. rufen in mir Assoziationen mit den Werken von Knut Hamsun („Mysterien“, „Der Hunger“) hervor. Es gibt viel Gemeinsames in seinen und in deinen Werken: das Nebelhafte, das Umherirren der Helden, der mysteriöse Stil, mystische Beschreibungen… Würdest du akzeptieren, dass ein Bezug zwischen deinem Schaffen und dem von Hamsun besteht?
- Von Hamsun habe ich ein Buch in meiner Jugendzeit, ein weiteres im letzten Jahr in deiner wahrhaft schönen Übersetzung gelesen. Was die Ähnlichkeiten oder gar Bezüge anbelangt, so sind diese nur in dem Maße möglich, in dem sich eine in einer Lichtung der norwegischen Wälder gewachsene Blume, die noch kein Menschenauge gesehen hat, und eine Blume gleicher Art auf dem Gipfel eines sonnengebrannten Felsens in unseren armenischen Bergen, die ich in meiner Kindheit bei jedem Vorübergehen bewundert habe, ähneln können. In den Ländern, die ich besucht habe, hat mich immer die Tatsache in Staunen versetzt, dass die Blumen und Gräser überall beinahe identisch sind…
Über den Einfluss: Bis zu einem gewissen Alter halte ich Einflüsse für natürlich, mit dem Vorbehalt, dass sie nicht in eine greise Anhänglichkeit münden. Ich denke jedoch, dass es das Schwierigste ist, sich vom eigenen Einfluss zu befreien. Dies setzt schon eine ganz andere Dimension der Auffassung von Leben und Literatur voraus. Im reinen Sinne der literarischen Kunst hat der Schriftsteller meines Erachtens zwei Hauptaufgaben in seinem Leben: die erste ist es, den eigenen Stil zu behaupten, die zweite ist es, den eigenen Stil zu überwinden. Das Letztere gelingt nur sehr Wenigen.
- In deinen Romanen sind die Figuren, die Ereignisse, die Atmosphäre konkret-allgemein, wirklich-mysteriös. Du schaffst typische Gestalten, die gleichsam wie aus einem Epos entspringen. Dies gilt auch für die Naturbeschreibungen. Die Beziehungen zwischen den Menschen, die deine Werke bewohnen, die Formen der Anrede, mit denen sie kommunizieren, erscheinen ebenfalls sagenhaft-episch. Dies betrifft insbesondere den Roman „Der Tag Gottes“. In diesem Werk deutest du, wenn ich richtig verstanden habe, an, dass du eine historische Schrift aufstellst. Hast du wirklich versucht, ein neues heiliges Buch, ein neues Epos zu schaffen?
- Der Schaffensverlauf eines Schriftstellers lässt sich bedingt in drei Phasen aufteilen: In der ersten Phase lebt er als ein gewöhnlicher Mensch das Leben, in der zweiten ist er als Schriftsteller bemüht, dem Leben den Sinn zu entlocken, in der dritten verschmelzen die ersten beiden und der Weise wird geboren.
In der ersten Phase versucht der Schriftsteller das Leben unmittelbar in Literatur zu verwandeln, sich als „Autor“ des Lebens darzustellen. In der zweiten behauptet das Leben seine Autorität über den Schriftsteller und dieser versucht, auszuweichen, indem er Literatur in Leben verwandelt. In der dritten Phase versucht der Schriftsteller sowohl das Leben als auch die Literatur zu überwinden und somit Freiheit zu erlangen. Was er in dieser letzten Phase auch schaffen mag, verwandelt sich von selbst in verkörperte Weisheit. Dies ist das Epos.
Das ist der Grund, warum es im Epos kein Ich des Autors gibt: die menschliche Identität des Autors ist ganz und gar im Werk aufgelöst. Der Erzähler ist immer blind und unbekannt. Und sein Name ist stets bedingt, wie alles in seiner Geschichte: Leben und Tod, Menschen und Tiere, Natur und All, Zeit und Raum, Gut und Böse. Absolut ist nur eines: der Kampf. Der Kampf zwischen Wahrheit und Lüge. Die kämpfende Seite ist indes nicht die Wahrheit, sondern die Lüge. Die Wahrheit braucht nicht, zu kämpfen: Ihre einzige „Aufgabe“ ist es, zu sein.
Deshalb trachtet jedes aus sich selbst heraus entstandene Werk nach Grenzenlosigkeit, daher ist es auch heilig.
- Wenn ich sagen würde, dass der noch nicht publizierte Roman „Der Tag Gottes“ der beste unter deinen drei Romanen ist, wie würdest du auf diese Behauptung reagieren? Bei „Armen“ wünschte ich mir, ein anderes Ende zu erleben: Die Hauptfigur sollte nicht getötet werden, sondern sein Umherirren im unbekannten Land fortsetzen, genauso wie er im ganzen Roman auf den Wellen des Lebens hin und hergetrieben wird. Auch beim Roman „Berg der Sonne“ habe ich meine Zweifel, vor allem dass die Gedanken der Hauptfigur ihrem Alter nicht entsprechen: Der Knabe spricht manchmal wie ein Jugendlicher und manchmal wie ein Erwachsener. Aber im Falle von „Der Tag Gottes“ kommen in mir keine Zweifel, keine Einwände auf. Ich akzeptiere diesen Roman bedingungslos. Alles an ihm stellt mich derart zufrieden, dass ich ihn als einen bedeutenden Roman, als ein Epos bezeichnen kann. Dieser Roman ist meines Erachtens eines der besten Werke, die je die armenische Literatur hervorgebracht hat.
- Da der Roman „Der Tag Gottes“ noch nicht veröffentlicht ist, darf ich hier keine näheren Ausführungen zu seinem Wesen machen. Ich kann mir lediglich erlauben, eines festzustellen: Er stellt einen Versuch dar, die ursprüngliche Erinnerung des Seins wiederzubeleben…
Während der Entstehung von „Armen“ verfolgte meine Familie mit Herzklopfen den weiteren Verlauf des Romans. Als ich ihn beendet hatte, sagte ich beiläufig: „Der Roman ist zu Ende“. Meine Kinder sahen mir ins Gesicht und begriffen alles. Weinend begannen sie, mir heftige Vorwürfe zu machen, als ob ich es wäre, der Armen getötet hätte… Ich muss gestehen, dass ich mich in diesem Augenblick unendlich schuldig fühlte, doch meine Seele war unbewegt wie ein Grabstein… Ohne diese Teilnahmslosigkeit ist das Schaffen nicht möglich. Es wird eine gewisse Zeit verstreichen und alle, darunter auch Du, lieber Hovhannes, werden sich davon überzeugen, dass Armen kein anderes Schicksal erwarten konnte…
Der Roman „Berg der Sonne“ ist keine auf den Kindheitserinnerungen des Autors basierende Erzählung, sondern das Leben der Kindheit selbst. Es ist eine eigenständige Welt, wo alles, ineinander verschmolzen, in der kindlichen Wahrnehmung lebt, außerhalb deren nichts existieren kann. Ich kann sagen, das Kind selbst sei seine eigene Wahrnehmung des Lebens. Dies stellt einen im ganzen Universum einzigartigen Bewusstseinszustand dar, der, wie man sagt, nur den Göttern vorbehalten ist und sich nie wiederholt. Wenn im Kind der Mensch erwacht, beginnt es, sich selbst von der Welt zu unterscheiden. Die einheitliche Wahrnehmung des Lebens bekommt Risse, und es wird in ihm die uns bekannte Welt geboren: Leben und Tod, Liebe und Hass, Traum und Wirklichkeit usw. Der Roman „Berg der Sonne“ ist an diesem Wendepunkt entstanden („Der Tag neigte sich unmerklich zum Sonnenuntergang“).
Was einige „Grenzsituationen“ im Roman anbetrifft, so erlaube ich mir, anzumerken, dass es keine andere natürliche Möglichkeit gibt, die feinsten Gefühle, die unergründlichen Empfindungen und Wahrnehmungen des Knaben Areg treu widerzugeben, als diese in eine menschlich verständliche Sprache zu übersetzen, mit der Bedingung natürlich, dass wir als Menschen bestrebt sind, das Leben der Kindheit gänzlich nachzufühlen und zu erkennen…
- Ich halte dein Schaffen für eine der besten Erscheinungen in unserer alten und gegenwärtigen Literatur. Würdest du ohne falsche Bescheidenheit meiner Meinung zustimmen?
- Ich denke, weder mein „Ja“ noch mein „Nein“ können von irgendeiner Bedeutung sein…
März, 2015
Jerewan
Interviews
Literaturzeitschrift „LITERAUTRNAYA ARMENIA“ („Literarisches Armenien“), Freitagsgespräche, russisch, 2013
http://www.litarmenia.am/article/44
Aus dem Russischen übersetzt vom Autor