AM ANDEREN ENDE
Zyklus, 1986-1987
Aus dem Armenischen übersetzt vom Autor
I
Ich weiß nichts von Welt und All,
Auch mich selbst kenne ich nicht;
Ich fühle nur: Leid und Qual,
Ergreifen mich mit jedem Schritt.
Zahllose Menschen kommen und gehen,
Ihre Leiden überdauern nur;
Ich spüre: die Winde wehen
Wischen auch diese ab: keine Spur!
Verflüchtigt und in Staub verwandelt,
Setze ich mich aufs Nichts nieder…
Seit Anbeginn kenne ich die Welt;
Sie kennt mich nicht, meine Lieder…
II
Es ist still in meiner Seele:
Auf mein Gesicht fiel ein unbekannter Schein.
Jenseits der Ewigkeit - ein strahlendes Heim:
Verstummt stehe ich an seiner Schwelle.
Ich fühle, dass ein Wunder geschieht:
Das Licht macht alle stumm.
Jemand berührte mich, ich wandte mich angstvoll um:
Der Tod starrte in mein Gesicht.
III
Seit Kindertagen ist der Tod mein Freund:
Ich spielte mit ihm mit Leid und Freud.
Mit leichter Hand besiegte er mich:
Fangen wir erneut an!’’, trotzte ich.
Er lächelte selbstsicher und gelassen;
Ein Geheimnis verrieten seine Grimassen.
Tag und Nacht spielten wir wie im Fieber,
Ich musste ihn beneiden immer wieder...
Dann strömte die Zeit herab viel Regen;
Vieles spielte mir das Leben entgegen:
Liebe und Traum, Grauen und Wissen,
Lüge und Glück, Leid und Gewissen!...
Vor Kurzem bekam ich ihn erneut zu Gesicht;
Ich fühlte mich wieder peinlich besiegt.
Doch ich kenne jetzt seinen heimlichen Trick:
Durch meinen Tod erring’ ich den Sieg...
IV
Das Licht nahm mich gefangen durch meine Geburt;
Und ich schrie vor ausweglosem Entsetzen.
Eine Hand hat mir Anfang und Ende vor die Augen geführt;
Ich wurde stumm vor ausweglosem Entsetzen.
Eine überreichte mir die Liebe als Gabe;
Ich jauchzte vor ausweglosem Entsetzen.
Es ist, als wie das Leben mich gekreuzigt habe;
Würde mich der Tod retten vor ausweglosen Entsetzen?
V
Meine Seele ist nun makellos rein:
Kein Hauch, kein Laut, kein Schatten, kein Schein!
Ich lebte in Sünden tief versunken;
Meine Seele war des Lichts trüber Funken.
Wie kam es dazu? Ich weiß es nicht mehr;
Ich sah im Traum, ich wäre Gott: der Herr!
Ich stehe in der Sternhöhe, einsam und hehr;
Leben und Tod rennen mir hinterher.
Mit meiner Rechte verteile ich das Licht;
Unten jauchzt die Welt, finster und blind.
Das Licht ist dabei, seinen Kreis zu vollenden;
Es strahlt entgegen ein verlorenes Eden...
Ich habe Angst vor Erwachen sehr;
Für den gefallenen Gott gibt’s keine Wiederkehr...
VI
Ich schäme mich, meinen Blick gegen den Himmel zu heben;
Vor einer unergründlichen Schuld muss ich stets beben.
Eines Tages verließ ich mein Haus und Heim:
Warum? Es blieb mir für immer geheim.
Ich erwachte im Abgrund, mutterseelenallein;
Ich verlor den Weg; er führte heim.
Mir war es, ich sei umzingelt von Feinden:
Jeder Schritt von mir war Kummer und Leiden.
Mir war, jemand verfolge mich, sich nähere...
Ich blickte zurück: nur Stille und Leere!
Mir war, er sei der Grund der Leiden all:
Er bringe mir Qual, Irrtum und Fall...
An einem lauen und windlosen Ort
Wandte ich mich um und schlug ihn tot.
Es war ein Kind, sonnenhell heiter,
Als wäre es ich im kindlichen Alter.
Um ihn zu suchen, ging ich einst weg;
Es folgte mir aber still über Kluft und Berg.
Es führte mich heim, es kannte den Weg;
Ich tappe irr herum, ohne Ziel und Zweck.
Die Erinnerung an ihn - ein schreckliches Zeichen -
Ist wie die Todesstunde: ich kann ihr nicht weichen...
Ich wandere im Abgrund - was kann mich noch retten? -
Und fürchte, mein Haus tot zu betreten.
VII
Jemand spricht zu mir in hektischer Eil,
Wiederholt unaufhörlich: „Mensch... Welt... Unheil...“
Er stellt mir wirre Querfragen,
Vermischt die Zahlen: ,,Kannst du es wagen?‘‘
Seine Worte sind dunkel, nichts begreife ich,
Bitterkeit schlägt Wellen und umflutet mich.
Das Sternengeräusch seiner finsteren Stimme
Durchdringt meine Seele, beraubt mich der Sinne.
Es treibt mich hin und her wie eine leichte Feder,
Rettet mich aus der Gehenna und wirft in die Hölle wieder!
Und auf meinem Gesicht, einsam und ratlos,
Spüre ich den kalten Atem des Chaos…
VIII
Ein trauriges Lächeln im starren Gesicht,
Erscheint mir mein toter Bruder im trüben Licht.
Er erscheint mir wie in einem schwarzen Spiegel,
Als wie jemands Schatten auf ihm liege.
Ich spreche zu ihm: So fehlst du mir!
Überall auf der Welt suche ich nach dir!
Nichts hat sich geändert nach deinem Hinscheiden;
Sind anders geworden nur meine Leiden.
Ich träume nicht mehr vom himmlischen Garten;
Wie ein blinder Schimmer verharre ich im Warten.
Meine Seele stöhnt, zerrissen vor Zwist;
Bald komm ich auch an, dort, wo du jetzt bist…
Ein trauriges Lächeln im starren Gesicht,
Entfernt sich mein Bruder im trüben Licht.
Plötzlich erschallt ein Lachen an meinem Ohre;
Es scheint, dass ich es aus dem Spiegel höre...
Ich erwache im Schweiß, in der kalten Leere;
Es ist, als ob das Leben noch nicht erschaffen wäre...
IX
Ich sehe Seinen Rücken wie in einem endlosen Rahmen;
Er war, Er ist und hat keinen Namen.
Er ruft mich zu sich, spricht zu mir weise,
Worte sind scharf und klar, die Stimme leise.
„Das Licht“, sagt Er, „gehört dir nicht:
Du bist gekommen und predigst ihm die Sicht!
In Freude und Leid jauchzest du blind,
Retten und Zerstören: du bist wie der Wind!
Und du hast den Tod zum Sockel gemacht
Für dein Gewissen, selbstisch und schwach!
Du, ein gefallenes Sternchen aus Unbekanntem Schoß,
Was bist du geworden? Was ist mit dir los…?“
Mit schwerem Gemüt und gesenktem Kopf
Wiederhole ich nur: „Ich bin nur ein Knopf!“
Er dreht sich um: „Du genießt das Licht
Und gibst deinem Liede deiner Seele Gift!“
Ich blicke mit Furcht, Sein Gesicht zu erkennen,
Sehe nur seinen Rücken vor mir gehen...
X
Ob wach oder im Schlaf harre ich immer wieder:
Es strahlt plötzlich das ersehnte Wunder!
Das Leben wendet sein allerletztes Blatt;
Das Geheimnis leuchtet in all seiner Pracht.
Und Wer mir den Traum vom Lichte schenkte,
Bringt Sein Versprechen zum vollen Ende.
Innen und draußen, in Ruhe und Fried’,
Lässt das Licht erschallen sein ewiges Lied.
Und ich begreife endlich den leuchtenden Sinn:
Warum ich derjenige bin, der ich es bin…!
Der Augenblick verflüchtigt in endlosen Weiten;
Vor mir schweigt nur mein stummer Schatten.
Ich besichtige ihn betrübt und bedrückt;
Es scheint, er ist es, der mich betrügt…
Und ich sehne mich brennend nach Einem,
An den ich, noch nicht geboren, glaubte insgeheimen...
XI
Ich traue nicht dem Liebeswahn:
Er hat mich geschlagen in seinen Bann.
Manchmal fühle ich mich als Weltalls Herr,
Und manchmal - als ein Tier, sinnlos, nichts mehr!
Dem Tod gieße ich aus meines Spotts Schale:
Das gleiche Lösegeld gibt er für alle!
Ich will zerstören die Welt wie Schimmel;
Und eine Neue Welt erschaffen aus Himmel.
Mächtiger als Gott errichte ich die Gründe;
Und vergebe Ihm Seine große Sünde.
Ich scheide das Licht vom Dunkel der Rede,
Erschaffe das Leben am anderen Ende…!
XII
Es ist, als Einer lauere auf mich im Kreis,
Um zu sehen, ob ich zu leben weiß?
Er wirft mich in den Abgrund von Leid und Qual;
Träfe mein Gewissen eine andere Wahl?
Lässt den Gipfel des Ruhms vor mir ragen:
Würde ich meine Last ruhig forttragen?
Stellt mir die Falle dunkler Leidenschaften:
Ginge ich ihnen um, ohne mich zu schaden?
Lachen des Besiegten und des Siegers Weinen:
Tauschte ich nicht ihre Plätze insgeheimen?
Unbesiegter Traum und unersättlicher Körper:
Welchem von ihnen fiele ich zum Opfer?
Blinde Sehnsucht nach ewigem Wandern:
Verließe ich nicht mein Haus sinnlos klagend?
Geschlossene Türen, die ineinander öffnen:
Würde ich nicht wahnsinnig vor Erhoffen?
Eine riesige Welt – in Angst und Verderben:
Würde ich meine Hand zum Zerstören heben?
Er bedroht mich mit unvermeidlichem Fatum:
Ertrüge ich mein Los gehorsam und stumm?
Er lässt das Ende gegen meinen Anfang spielen:
Würde ich auferstehen vom eigenen Willen?
„ O Du, versuch nicht, mich vergeblich zu jagen!
Der Tod trifft nur das Ziel, ohne fehlzuschlagen…!“
XIV
Es gibt keinen Sieg, keine Niederlage;
Zum Wägen der Qualen gibt es keine Waage…!
Plötzlich geriet ich wie im wirren Traum
In einen geheimen und dunklen Hohlraum.
Als ich tastend erreichte den wankenden Boden,
Sah ich plötzlich etwas, unsäglich mit Worten!
Mit starrem Haupt kaute es wie ein Unhold
Das Einst und das Jetzt, das Leben und den Tod.
Was das Unendliche war - meiner Seele Heim -
War ein nichtiger Fleck in seinem düsteren Schein.
Ringsum war es nicht finster und auch nicht hell,
Sondern etwas anderes, eine... Dritte Welt!
Wo die Zukunft wachte über allen Sieg
Als eines irren Genies starrender Blick...
XV
In der Liebeswonne begehrter Stunde
Öffnet sich das Vergangene wie eine tiefe Wunde.
Ich fühle Gesichter in zahllosen Scharen,
Die einst zu Besuch beim Leben waren.
Sie haben geträumt, sind verweht spurlos;
Ich erlebe jetzt ihr Leben und Los.
Ein gelebtes Leben stellt mein jeder Tag dar,
Darum bin ich selber des Gesichtes bar...
XVII
Auf der Erde oder unter der Erde:
Dieses dunkle Oder ist allein die Grenze.
Unter meinen Füßen ist die Erde auf der Flucht,
Als wie sie eine Gefahr auszuweichen sucht.
Mit unstetem Schicksal fliehe ich vor der Welt,
Wer hat auf meinem Weg Fallen aufgestellt?
Ich klammere mich ans Leben und dann an den Tod,
Mit leeren Händen fliehe ich wieder fort.
Es ist immer derselbe Lauf - gleichgültig und alt:
Es ändert nur mein Schatten seine Form und Gestalt.
Ein stiller Hoffnungsschein misst den endlosen Raum,
Streut in meiner Seele den uralten Traum:
Es gibt, so sagt man, eine Jenseitswelt,
In der die Kindheit in Ewigkeit währt...
Wenn auch rund sind die Erde und das All,
Schließt sich dieser Kreis auf keinen Fall…
XX
Wer hat vorbestimmt meiner Seele Los?:
Aufrichtig und scheu, kühn und willenlos.
Unaufhaltsam verfällt meiner Seele Heim:
Es fällt auf sich nieder, es sinkt in sich hinein.
Mir ist, als habe ich mein Leben gestohlen:
Ich bin mein Trugbild, ich bin verschollen.
Ich spiegele mich in einem endlosen Spiegel:
Mein Antlitz ist trüb, meine Züge - edel.
Und Glück und Leid, Finsternis und Licht
Überfluten meine Seele, erreichen mich nicht.
Ich halte mich auf an einem anderen Ort,
Wo ich keinen Namen habe, weder Leben noch Tod...
© Sevak Aramazd