DIE ERDE
Zyklus, 1977-1980
Aus dem Armenischen übersetzt vom Autor
ERINNERUNG
Aus der Asche der Erinnerung, schwer und leicht,
Hole ich heraus das Bild der Vergangenheit,
Das diesem nebligen Weltall gleicht:
Namenlos, verschwommen und weit.
Zitternd, wie ein Gläubiger vor dem Altar,
Befreie ich das Bild von Staubschichten;
Und lausche unbewegt und starr
Dumpfem Widerhall ferner Geschichten.
Wie es im frühmorgens aufkommenden Licht
Langsam sichtbar wird die ferne Stadt,
So steigt empor eine unbekannte Gestalt,
Verzerrt, furchterregend, ohne Gesicht…
Alles liegt in Trümmen plötzlich um mich,
Wird zum Staub, ohne Form und Kontur...
Mit scharfem Kreischen öffnet sich eine Tür,
Und ich verschwinde unwiederbringlich...
In der Finsternis der grenzenlosen Stille
Keimt auf eine Sehnsucht, unerschaffen, rein...
Zelle um Zelle komme ich zum Vorschein
Und erwache im ewigen Nihile.
DAS SCHICKSAL
Es sinken unaufhörlich die Himmelsweiten...
Die Erde hebt sich unaufhaltsam hoch...
Und in ihrem düsteren Zwischenloch
Wandern wir wie blinde Schatten.
Plötzlich prallen sie aufeinander mit Wucht und Welle;
Wie eine Klinge, flammend und scharf,
Saust eine Frage mit Blitzesschnelle
Und enthauptet uns mit einzigem Schlag.
ELEGIE
An meinen verstorbenen Bruder Meruzhan
Der Fluss floss dahin in nächtlicher Ruh,
Unauflöslich vereint mit seinem Schlamm;
Er trug dich fort. Mit starrem Gram
Schaute wie ein Zeuge nur der Mond zu.
In den Rieden, dicht und dunkel,
Schrie jäh, verstummte dann ein Vogel;
So entflammte dein Leben wie ein Blitz
Und sank wieder zurück ins Nichts...
Wie ein verblasster Mondesschimmer
Klingt nur die Erinnerung an dich im Dunkel...
Der Fluss floss dahin gleichgültig wie immer;
Und es weinte still irgendein Vogel...
SISYPHUS
Garten ist ein endloser Raum,
Der Himmel - klar und makellos;
Die Welt - ein blühender Traum;
Es gibt Spiele, klein und groß.
Ein Knirps füllt morgenfrüh
Seinen Eimer bis zum Rand
Mit feuchtem, schwerem Sand
In unglaublicher Müh.
Er füllt, schüttet dann den Inhalt weg,
Immer wieder, aus und ein...
In meiner Seele erweckt
Seine Qual die alte Pein:
- Kind, du weißt nicht, du bist noch klein:
Dein Ahn wurde ihm schon gerecht:
Verlassen hat er seinen Stein,
Die Hand dem Tod ausgestreckt!
KAIN
Heute, wenn unzählige Seelen auf Erden
Bei dem Himmel um ein Stück warme Sonne flehen,
Und der Himmel seine Antwort als Segen schickt -
Immer wieder mit Fluchen blitzt und donnert,
Taucht deine Gestalt, Kain, in hungernden Blicken auf
Als eine leichte Zielscheibe,
Die seit Jahrhunderten leider durchbohrt wird,
Denn statt der Seele ist nur der Körper nah,
Sichtbar und offen.
„Es ist das Blut des Bruders, das klagt und spricht...“.-
Lüge! Lüge! Kain! – Ich sehe klar
Dein vor Grauen verzerrtes Gesicht neben dem Leichnam:
Es ist das erste Mal, dass du die Stimme des Todes hörst...
Du, ein unwillkürliches Opfer, das das erste Mal
Im aufgeblitzten Augenblick das Gesicht des Henkers sah,
Und das erste Mal sowie das letzte Mal
Seines eigenen Todes Zeuge war...
Du hast den Tod gesehen! Du bist glücklich, Kain!
Denn diese Stille trügt mich immer wieder;
Ich fühle ständig ihre steinerne Hand in meinem Rücken;
Und wenn ich mich umdrehe, um sie zu berühren und zu sehen,
Verschwindet sie augenblicklich...
Und ich sehe wieder dein trauriges Gesicht:
Wortlos stehst du neben dem Leichnam...
Und niemand weiß – du ein unwillkürliches Opfer –
Das Maß deines Verlusts unermesslich...
FISCHESKREUZ
An den Bruder Simak
Ihn quälen die Visionen des Schaffens:
Steigende Formen, die noch keine Gestalte haben;
Mal steht berghoch, mal stürzt in den Abgrund
Der Seele Aufruhr. Drei Laute,
Wie drei Engel mit Heiligenschein,
Bringen plötzlich auf ihren Flügeln
Ein verlorenes Flüstern aus ferner Kindheit.
... Es gibt bunte Steine im sommerlichen Flüsschen;
Im kristallklaren Wasser sucht ein kleiner Knabe
Den Goldenen Fisch insgeheimen...
Und die Finger strecken sich nach dem Ton,
Und der Ton zittert. Und lautlos
Schreien die Finger vor Schmerz der Vergangenheit...
Was ist das Leben? Ein unausweichlicher Köder
Der endlosen Trennung!...
Hier,
Auf dem Tisch,
Steht eine Fischstatue, in sich gekehrt,
Auf dem Haupt -
ein kleines Kreuz.
GEBURTSTAG
Eine Menge von schwarzen Raben schlummerte.
Erstickend heiße Stille. Öde Steppe.
Einer von ihnen krähte leise
Mit tiefem Trübsinn vor sich hin.
Ich warf einen Stein, um ihn zu verscheuern.
Mit halbgeschlossenen Augen
Sah er mich an und sagte nichts.
In mir kam ein dunkles Entsetzen auf:
Wie ich hier gelangen könnte…?
In der Ferne trauerte eine entlegene Ruine,
Als wie sie nachdenklich etwas vor sich hin murmelte...
Und es war Abend. Die Dämmerung stieg nieder
Wie eine schwarzglänzende Flügelfeder eines Raben...
Es fiel mir plötzlich ein,
Dass ich morgenfrüh eine Taube in den Himmel fliegen ließ...
Und es schien mir einen Augenblick,
Die Menge dieser trägen Raben
Fresse in Gedanken mit gierigem Eifer
Das Aas meiner armen Taube...
DER VERLASSENE SCHLACHTHOF
Wie eines Zirkus riesige Pauke
Steht er in der Sonne. Kein Fenster.
Nur ein torloser Eingang - wie ein blindes Auge.
Innen ist Abgrund, ewig düster.
Keine Ecken: die Wände – glatt und rund;
Es tappt sogar die Zeit – sie rutscht und sinkt;
Und wenn ein Laut plötzlich hineindringt –
Kein Widerhall: unsichtbar ist der Grund...
Nur der Knochen Glanz, matt und bang
Schimmert wie Sternstaub überall;
Es schien, dass eine ferne Stimme klang...
Dort lebt ein stilles Schattenland
Als eines anderen Lebens Widerhall -
Dem Sonnenlicht ewig unbekannt.
DAS LIED DES HERBSTES
Und ich trete wieder in den Herbst hinein:
Wie ein Kind, das sich seiner nicht erinnert;
Wie ein Baum, der seinen Tod leise wiegt;
Wie der Wind, der seine Stimme nicht vernimmt.
Dies ist unser Haus, doch ist mir wie fremd:
Das Haus und sein Schatten sind mit dem Nebel vermengt;
Und die Stadt? Ich erinnere mich nur an den Rauch:
Über das Leben, den Tod und die Liebe ausgebreitet.
Trauriges Lied. Schritte. Aus dem Nebel
Kommt der Weg mir entgegen.
Man muss leben. Leben muss man. Weiter nichts...
In der Ferne warten auf meine Wiederkehr
Die hungrigen Wüsten der Sehnsucht...
Meine Mutter schüttet mir Wasser nach.
DAS LIED DES BLATTES
Ich stehe immer am gleichen Ort
Und schaue... wohin? Ich weiß es nicht.
Jenseits von mir herrscht immerfort
Eine tote Stille ohne Gesicht.
Starrend zur Stille geneigt,
Lausche ich Tag und Nacht:
Bin ich es selbst, das so flüstert?
Oder der Wind, der sich nähert?
Ich höre, es stöhnt der Baum,
Wirft seinen Schatten überall...
Ich fliege fort in den Raum
Und erwache im freien Fall.
DAS LIED DES MONDES
Von oben ruft mich die Sonne Tag und Nacht,
Von unten die Erde mit ihren Winden.
Ich tappe dazwischen, blind und nackt.
Werde ich jemals meinen Weg finden?
DAS LIED DES FISCHES
Das Meer fließt um mich herum;
Mit ihm rede ich nicht, ich bin stumm.
Das Meer singt sein hohes Lied;
Seine Stimme höre ich nicht.
In der Brandung tobt das Meer;
Ich sehe nichts, mein Aug ist leer.
Das Meer klagt um seinen Fall;
Ich schwimme ruhig überall.
Um nichts bitte ich das Meer;
Das Meer schweigt ewig in mir.
DAS LIED DES STAUBES
Ich bin der Staub, der unendliche Anfang der Stille.
Ich setze mich auf die Seele nieder und auf die Steine,
Die Traum einer Ruine sind oder eines künftigen Hauses.
Ich lasse mich auf den Weg nieder, der nach Hause führt;
Und auf die Nähte des Kleides einer Sehnsucht,
Die hoffnungslos müde ist, doch nie zur Ruhe kommt.
Auch auf die Knospen der Bäume setze ich mich nieder,
Die ihre Wurzeln in der Erde unterbringen,
Selbst aber unaufhaltsam zum Himmel emporstreben.
Ich setze mich auf den Klang nieder, der nicht widerhallt;
Und auf die Angeln der Türen,
Die, wie sie sich auch öffnen, immer den Ausgang sperren.
Ich setze mich gleichgültig auf Leben und Tod nieder;
Und auf den Rücken des Schicksals, von Lasten verkrümmt;
Und auch auf die Hand, die Hand, die sich abzuwischen bemüht...
Sieh aber: auch auf diesem Lied sitze ich. Schon...
UNWIEDERBRINGLICHKEIT
Herbst schlummerte friedlich am Baum,
Den Rücken an die Sonne gewandt.
Ein Kindlein-Blatt
Schrie plötzlich im Traum -
Und fiel...
O wehe!
O wehe!
O wehe!
„Es rief das Kind...“.
Dann wehte der Wind,
Und fiel der Schnee.
MEIN LEBEN
Ich schwebte empor zum Unsterblichen Licht,
Auf meinen Flügeln - zahllose Weltalter;
Ein unbekannter Schatten fiel mir aufs Gesicht;
Eine Hand zerquetschte mich wie einen Falter.
Da öffnete sich der Höhle Felsenwand;
Es wurde gefeiert die Neue Geburt;
In strahlenden Kindes makelloser Hand
Fand man einen Tropfen geronnenes Blut.
MEINE RELIGION
Das Leben eines anderen lebte ich gebannt;
Er gab seinen Geist auf, ich auferstand.
© Sevak Aramazd