NEUE GEDICHTE

2011-2014

(Aus dem Gedichtband: "EIN GROSSER SONNENAUFGANG", Gedichte, in armenischer Sprache, "Antares", Eriwan, 2018;

in Deutsch (teilweise): „Ostragehege“, 2/2018, Heft 88; „Bawülon“, 4/2018, [32]) 

 

 

Aus dem Armenischen übersetzt von Sevak Aramazd  und Bettina

Wöhrmann



 DAS GRAS

 

In Höhen und Tiefen gedeiht es;

Lebt ewiglich in seinem Grün.

 

Hier sein Entstehen, sein Ende dort;        

Es kennt weder Menschen noch Gott.                 

 

Der Regen geht nieder, es geht der Wind;

Geschlagen wird es – doch klagt es nicht.

 

Weder Nahes noch Fernes lockt es an,    

Hinauf oder Hinab – kein Kümmernis.

 

Und schlummert die Welt dahin,

Summt es leise ein Liebeslied.

 

 

 

DAS STAUBKORN

 

Mit Leichtigkeit durchmisst es das Weltall,

Sinkt hernieder wie ein lautloses Lied.

 

Tanzt frei wie der Wind in den Lüften,

Ohne Gewicht, gleich einem Strahl von Licht.

 

Streift sanft mein Gesicht im Schlummer,

In meiner Seele ein Zittern – nie gekannt.

 

Und ich erblicke unter den Lidern

Gottes Angesicht – makellos.

 

 


DIE RÜCKKEHR

 

Einsam und reglos liegt er im Bett,

Erloschen die Stirn, die Augen geschlossen,

Wie aus des Nebels undurchdringlicher Tiefe

Dringt dumpfe Klage an sein Ohr.

 

Ihm ist, als warte jemand neben ihm sitzend

Still auf seinen letzten Atemzug;

Ein ihm Vertrauter oder Gott selbst?

Die ganze Welt, die lastet auf seinem Gewissen?

 

Da erhebt er sich jählings von seinem Lager:

Von Ferne ruft ihn des Vaters Haus:

Hier, der Garten, sein Baum in Blüte,

Der spielduftende Hof, in Schatten getaucht.

 

Im Spalt der halbgeöffneten Tür

Erscheint das helle Gesicht eines Kindes,

Seine Augen schauen voll Staunen auf ihn,

So, als erblickten sie neues Spielzeug.

 

Er umarmt es voll brennender Sehnsucht,

Drückt es mit unendlicher Liebe ans Herz:

Kalt wie die Erde der Körper des Kindes,

Finster das Haus wie eine Gruft.

 

 

 

DER TROPFEN

 

Wie ein Traum in finstrer Nacht

Schwillt er an, unmerklich, sacht.

 

Erbebt wie des Erwachens Augenblick,

Im Übergang zwischen Dunkel und Licht.

 

Beständig schwebend im leeren Raum,

Schimmert er wie die Zeit herauf.

 

Stürzt herab mit dumpfem Ton,

Zerbirst in unzählige Welten ringsum.

 

Verdunstet in Frieden und stumm,

Schwer wie das Leben, leicht wie der Tod.

 

 

 

DIE WIRKLICHKEIT

 

Im Traum erschien mir in grellem Licht

Auf erblühter Lichtung ein schweigendes Haus.

 

Leicht trete ich über die Schwelle, unsichtbar,

Finde mich plötzlich in einem dunklen Raum.

 

Zahllose müde Blicke starren mich an

Aus der Finsternis – jedoch ohne Gesicht.

 

Sind dies die Tage, die ich gelebt?

Gelächter und Weinen bricht um mich aus.

 

Entsetzt will ich fliehen –                         

Wie ein Gewichtsstein so schwer meine Seele.

 

 

 

DIE FREIHEIT

 

Sie tritt über die Ufer des Grenzenlosen,

Strömt ewig allseits und hat keine Quelle.

 

Zahllose Welten sind ihre Strahlen,

Verstreut über grundloser Leere.

 

Gleich einem unsichtbaren Schleier

Umhüllt sie Dinge, Körper und Seele.

 

Nicht greifbar, nicht sichtbar wie Luft,

Entschwindet sie, zum Gedanken geworden.

 

Den Augenblick von Tod und Leben

Weiht sie mit einer unbekannten Blume Duft.

 

Ich kam zur Welt, nach der Blume zu suchen,

Wenn ich sie finde, bin ich vergangen.

 

 

 

DIE ZEIT

 

Ein kaum sichtbarer Punkt in des Unendlichen Spiegel

Bricht plötzlich auf und wird zum Strom.

 

Ein winziges Korn – in gleißender Wüste

Bricht auseinander und wird zum Meer.

 

Ein Samenkorn – unmerkbar im finsteren Erdreich

Sprießt plötzlich hervor und wird zum Wald.

 

Ein Keim noch ohne Gestalt im Leib der Mutter

Gleitet heraus – und ist ein Mensch.

 

Ein Wind, unbewegt auf der Wolke Sitz

Beginnt zu wehen und wird zu Gott.

 

Ein Vogel, namenlos, auf Unbekanntem hockend,

Pickt alles auf und verschwindet.

 

 

 

DER HORIZONT

 

Das Meer türmt sich auf im Erwachen,

Versucht, den Sturmwind zu packen.

 

Der Himmel stürzt hinab in den Abgrund,

Sucht nach der Erde dunklen Gründen.

 

Das Licht zerbricht wie ein Traum;

Die zahllosen Splitter werden zu Sand.

 

Das Leben bricht auf ohne Rückkehr,

Der Weg führt hinauf, es selber geht abwärts.

 

Alles wird zur undurchsichtigen Linie,

Sie trennt mich von meinen Blicken.

 

Was schweigt jenseits der Grenze,

Ist Widerschein meiner Seele, ins Unbekannte geworfen.

 

 

DER BERG

 

Er wohnt gleichsam ewig im Himmel,

Einem gewaltigen Einsiedler gleich;

In seinen Pupillen, schlaflos, schimmern die Sterne;

Sein Geist ist das Namenlose, sein Atem der Wind.

 

Tief in den Schluchten seines feurigen Sinns

Brodeln ungestüm die Zeiten;

In seiner Seele undurchdringlichen Höhlen

Werden und vergehen zahllose Welten. 

 

Durch seiner Hände blaudunstige Täler

Fließen des Schicksals Ströme;

Es bohren sich dunkle Geheimnisse in seine Brust,

Blitze des Leidens durchfurchen sein Antlitz.

 

Erhebt er sich, grenzenlos müde vom Schauen

Mit dumpfen Stöhnen für einen Augenblick,

Bebt zu seinen Füßen erzürnt die Erde,

Streut aus rings Zerstörung und Tod.

 

Die Kälte der finsteren Nacht nicht empfindend

Erwartet er still den Aufgang der Sonne;

Ahnungslos wie ein Kind, dass ihn auf Erden

Das menschliche Geschlecht verehrt.

 

 

 

DIE KINDHEIT

 

Meine Kindheit blieb zurück in den Bergen;

Ein kleiner Junge mit braungebranntem Gesicht

Schaut unverwandt in die Ferne.

 

Die Lämmer sammeln sich still,

Unmerklich ersterben rings die Düfte;

Nach und nach erwachen am Himmel die Sterne.

 

An den dunklen Enden des Horizonts

Rauscht dumpf eine unbekannte Welt;

Der Wind weht ihren fremden Atem heran.

 

Allseits bricht allmählich die Nacht an;

Ein kleiner Junge starrt ins Dunkel –

Er wartet auf meine Rückkehr.

 

 

DAS SPIELZEUG

 

Reglos stand in dunkelnder Straße

Ein Spielzeug, groß wie ein Mensch;

Das Lärmen der Menge stach einem ins Ohr, 

Bis plötzlich alles verstummte.

 

Eine einzige Lampe, die sonnengleich strahlte,

Als sei sie am Himmel aufgehängt;

Die runde Bühne –  die kahle Erde,

Die allmählich zum Leben erwachte.

 

Grob der Körper wie aus Ton geformt,

Spiegel die Augen, das Licht widerspiegelnd;

Das Herz, eingepflanzt in der durchsichtigen Brust,

Es schlug regelmäßig – ohne Gefühl.

 

Plötzlich öffneten sich die leblosen Lippen,

Worte und Rede drangen hervor, Tanz und Gesang;

Es tobten grausame Kämpfe,

Bis es erschöpft auf dem Boden zerbrach.

 

Die Menge zerstreute sich hastig, in Angst;

Ich schickte mich müden Schrittes zur Heimkehr an;

Wie ein Schatten am Boden kniend

Sammelte im Dunkeln jemand die Scherben auf.

 

 

 

DAS LICHT

                                                              

Unbekannten Ursprungs                              

Durchquert es blind die tote Finsternis;

Hinterlässt als Spur den Raum,

Streut Zeit aus wie Staub.

 

Es trifft den reinen Spiegel meiner Seele,

Fliegt auf demselben Weg zurück:  

Der Widerschein wird Gott, Welt und Mensch;

Meine Seele – eine unbekannte Quelle.

 

 

  

DER STEIN 

 

Unter der Sonne liegt er, glühend und nackt,

Ohne Bewegung, ohne Gefühl, in sich vertieft.

 

Ist er am Leben oder schon tot?... Er wusste es nie,

Sein Schatten aber legt sich taubstumm um ihn.

 

Das Rascheln des Mooses, so dicht und so tief,

So dunkel, so blind, so hitzig und schwül.

 

Des nachts wie am Tage, bei Hitze und Frost -

Zahllose Formen des tiefen Falls.

 

Und sein träges Gefälle – der Raum,

Es zerbröckelt ihm seine Kanten die Zeit.

 

Doch staubbedeckt blieb ihm ein Streif von Licht:

Die Gegenwart Gottes, seiner Füße Spur.

 

 

 

DER SPIEGEL 

 

Unbeweglich hängt an der Wand ohne Boden

Dieser Abgrund des Schweigens – innen und außen.

 

Dies Ding an sich ist bodenlos-blinde Klugheit –

Es besitzt nicht einmal einen eigenen Schatten.

 

So grundlos der Augenblick von Liebe und Tiefe,

Ein ewiger Traum – nichts, weder außen noch innen.

 

Dort ist des Weltalls Geburt und Untergang, nichtig

Jedoch ist die Spur – kein Fleckchen, kein Staubkorn.

 

In reinem Licht blinkt abgrundtief Ruhe,

Beständig, in Hochmut und niemandem eigen.

 

Unsichtbar – dieser Abgrund den geschlossenen Augen,

Öffne ich sie – bin selbst ich in diesem Abgrund.

 

 

 

VERTREIBUNG 

 

Wie im bösen Traum verlor ich den Weg

Auf einer Insel –  rings Dunkelheit, Angst.

 

Ich warf mich herum, suchte sie überall – die Mutter,

Von überall her kam Vernichtung, mich zu umfangen.

 

Verzweifelt rief ich den Vater, ich rief und rief,

Die Stimme verhallte, Fremde, wo der Vater nicht ist.

 

Eingestürzt ist der Seele Dach, das doch so fest war,

Meine Trauer hat Türen und Fenster zerschlagen.

 

Meer der Bitternis, Wasser, grausam, abgrundtief,

Einziger Weg – der Weg zum Firmament.

 

 

© Bettina Wöhrmann

© Sevak Aramazd