SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005

Dritter Teil, Kapitel 1

 

I

Früh am Morgen eilte Armen zu Skorp, aber er fand dessen Sitz geschlossen. Ein Zettel an der Wand verkündete: „Wegen der Besprechung keine Sprechstunde heute“. Unverrichteter Dinge zur Großen Kreuzung zurückgekehrt, lehnte er sich an das Geländer auf dem Gehsteig und wartete auf das Öffnen des Lebensmittelladens. Die ganze Zeit befand er sich unter dem Eindruck von seinem nächtlichen Traum. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er mitten im Traum aufgewacht und nicht nur alle seine Gedanken und Gebärden, sondern alles, was er sieht – Menschen, Autos, Stimmen, Licht und Staub – eine Fortsetzung seines Traumes seien. In der Nacht in seinem Häuschen angekommen, hatte er sich auf dem Fußboden ausgestreckt und war sofort eingeschlafen; vor der Morgendämmerung hatte er indes quälend lange gebraucht, um aufzuwachen; erst als ihn das heisere Lied des von dem nächtlichen Fischfang heimkehrenden Ata erreicht hatte, war er wach geworden.

 

Er hatte davon geträumt, ein schöner Jüngling mit feurigen Locken zu sein und mit einem langen und schimmernden Schilfrohr in der Hand auf dem Kinderspielfeld in Erwartung zu stehen. Das Spielfeld ist eine riesige Bühne, rund und innen grell grün gestrichen. Ringsum breitet sich ein grenzenloser Raum aus, voll von weißem und durchsichtigem Nebel, aus dessen Tiefe unzählige unbestimmte Gesichter schauen, die gespannt zur Bühne hinübersehen. Alle Menschen, die er je in seinem Leben gesehen oder von denen er je gehört hat, sind da. Wenn alle Platz nehmen und der Lärm aufhört, kommt er nach vorn und sagt: „Ich werde es euch gleich zeigen.“ Und er beginnt den Versuch. Mit dem Schilfrohr fängt er an, mit einer erstaunlichen Leichtigkeit den Grund der „Welt der Kinder“ auszuheben. Aus der Erde holt er einen großen Stein nach dem anderen heraus und legt sie in einem Kreis um die Mitte des Spielfeldes. Der letzte Stein ist schwarz und ungemein schwer und gleicht keinem anderen: Er ist hässlich unförmig und hat scharfe zackige Kanten. Er umfängt den Stein und versucht ihn herauszuholen, aber vergeblich. Im letzten Augenblick rollt der Stein wieder in die Grube hinein. Er selbst steht in der ausgehobenen Grube und schaut erschrocken, ob jemand in dem Raum sein schmähliches Scheitern bemerkt hat, da sieht er über seinem Kopf zwei gleichartige Gestalten, deren Gesichter er zwar nicht sehen kann, aber zu kennen glaubt; sie stehen auf den Erdhaufen und sehen aufmerksam seiner Arbeit zu. Verlegen lächelt er ihnen zu und schickt sich erneut an, den Stein hinauszuholen. Auch jetzt gelingt es ihm nicht und kalter Schweiß bricht ihn aus allen Poren. Zum dritten Mal spannt er alle seine Kräfte an und hebt den Stein bis zur Spitze des Erdhaufens hoch, dann aber sieht er erschrocken, dass er keinen Stein, sondern ein unheimlich großes schwarzes Insekt mit scharfen Saugrüsseln hält, das sich blitzschnell umdreht und ihn ins Gesicht sticht, wobei es sein Gift ihm direkt in die Pupillen spritzt. Er schreit und lässt den Stein los, der wieder in die Grube hineinrollt und dort zum Stehen kommt. Er öffnet die Augen, kann aber nichts erkennen: Ringsum starrt die schwarze abgrundtiefe Finsternis. Tastend breitet er seine Arme aus und trifft überall nur auf die feuchte Wand der Grube. Plötzlich taucht der kleine Greis auf, der ihn einmal mit Erde und Wasser vor dem Tod gerettet hat; er kann diesen zwar nicht sehen, aber dessen unsichtbare Anwesenheit spürt er. Der Alte beugt sich, nimmt eine Prise Erde, vermengt sie mit seinem Speichel und macht so daraus eine Salbe, mit der er ihm die Augen reibt, und – o Wunder! – es wird ihm sofort hell vor den Augen. Nachdem der Alte weg ist, öffnet er vorsichtig die Augen und sieht, dass der Raum missmutig lärmt und die Leute den Raum nacheinander verlassen. „Genug!“ kommt von oben. „Du hast den Versuch endgültig zum Scheitern gebracht. Leg dich nun selbst in die Grube!“ Er legt sich gehorsam in die Grube und wartet, die Arme stramm an die Seiten gepresst. Die Erde fällt auf ihn und bedeckt ihn langsam. Er hört, wie man dort draußen die Erde über ihm stampft. Als alles aufhört, sagt er lautlos: „Es ist soweit.“ Leise, um seinen schlafenden Leib nicht zu wecken, gleitet er daraus und schlüpft durch ein winziges Loch, das einem Lichtpunkt gleicht, aus dem Grund der Erde und sieht seinen Grabhügel. Die Wächter sind verschwunden, auch der Raum ist ganz leer und öde; auf dem grünen Feld schweigt allein sein Grabhügel. Der Anblick ist unermesslich schön und er ist davon hingerissen. Aus der Tiefe des Nebels vernimmt er Schritte. Ein langhaariger bärtiger junger Mann, ganz in Schwarz gekleidet, mit glänzenden kohlenroten Augen und hervorstehenden Backenknochen im schmächtigen Gesicht, kommt auf den Grabhügel zu. Der Mann kommt ihm bekannt vor und er strengt sich an, um sich zu entsinnen, wo er diesen gesehen hat, aber vergeblich. Der junge Mann hält in der rechten Hand ein volles Weinglas und in der linken ein abgenagtes schwarzes Brot. Er nähert sich mit behutsamen Schritten und gießt den Wein auf den Grabhügel, als zeichnet er darauf ein Kreuz, das Brot aber vergräbt er tief in die Erde. „Ich habe gesiegt“, murmelt er, dann kehrt er um und entfernt sich langsam. Er, Armen, gerät in Verwunderung: Dort, wo sein Kopf begraben ist, ist ein makellos runder Kreis mit Blut gezeichnet, von zahllosen krummen Strichen umgeben, die unregelmäßigen Blutstrahlen gleichen. Plötzlich vernimmt er neben sich eine laute heitere Stimme, er sieht sich um und erblickt Ata, der - auf dem Grabhügel herrisch thronend - gierig aus dem Weinglas trinkt und eilig am schwarzen Brot nagt. „Ich habe gesiegt!“ schreit er immer wieder, sich freudig umherblickend. „Ich habe gesiegt!...“             

 

Armen kam zu sich vom Lärm eines kleinen Wagens, der nicht weit von ihm an dem Gehsteig hielt. Aus dem Wagen stieg eine mollige Frau aus und kam auf den Kiosk zu, ein Bündel neuer Zeitungen baumelte an ihrer Seite. Sie hatte große hässliche Zähne, dicke Lippen, eine enge Stirn und erinnerte mit ihrem platten und vom blonden Haar umrahmten Gesicht und ihren winzigen Äuglein an irgendein Tier.

„Willst du keine Zeitung kaufen?“ fragte die mollige Frau nebenbei, indem sie die Zeitungen hinter dem Schalter des Kiosks mit geübten Bewegungen auslegte. „Es sind gute neue Zeitungen.“

Armen sah sich um; er war allein da, also sprach die Zeitungsverkäuferin mit ihm.

„Nein“, antwortete Armen. „Ich lese keine Zeitungen.“

„Warum, kannst du etwa nicht lesen?“ Die Zeitungsverkäuferin betrachtete Armen mit Neugier.

Armen blieb still.

Die Zeitungsverkäuferin holte eine große durchsichtige Tüte, die mit Sonnenblumenkernen gefüllt war, und begann deren Inhalt mit vollen Händen sich in den Mund zu stopfen. Einige Sonnenblumenkerne sprangen ihr aus dem Mund auf die Zeitungen.

„Das ist recht!“ sagte sie lässig, schnell kauend. „In den Zeitungen stehen lauter Lügen, zum Beispiel...“

 „Armer Mann!...“ sprach eine vertraute angenehme Stimme plötzlich hinter ihm. Armen drehte sich überrascht um und sah die großäugige Frau von Gestern; diese stand etwas abseits und schaute mit schmerzhaft verzogenen Gesicht zum anderen Gehsteig hinüber. Dort drüben, wo das Obere Kitak lag, hatte sich ein fürchterlich dünner, wie ein Skelet wirkender Mann in schmutziger Kleidung unter dem Pfahl der Straßenlaterne jämmerlich zusammengekauert; den Kopf an den Pfahl der Laterne gelehnt, starrte er mit einem konzertiert-unbestimmten Blick vor sich hin,  als  sei er vor etwas in Erstaunen versetzt worden und in dieser Pose mit angehaltenem Atem versteinert…    

„Es ist schon zwanzig Tage her, dass er sein Kind begraben hat“, erklärte die großäugige Frau mit bedrückter Stimme. „Der Fahrer des Architekten hat im betrunkenen Zustand sein Kind bei dieser Laterne überfahren. Seither verbringt der Arme Tag und Nacht unter dieser Laterne. Er hat den Verstand verloren und kommt um keinen Preis von hier weg. Er sagt: „Habe ich etwa kein Recht, vor meiner Haustür zu sitzen?  Mein Töchterchen kommt bald aus der Schule nach Haus...“

„Ja“, stimmte die Zeitungsverkäuferin tiefsinnig zu. „Wo man jetzt auch hinsieht, trifft man nur auf Verrückte...“ Sie wischte die Lippen mit der Hand. „Früher war es anders...“

„Ich muss gehen, sonst komme ich zu spät zur Arbeit“, sagte die großäugige Frau schnell, sah Armen einen Moment tief in die Augen und lächelte freundlich. „Ich heiße Vardi.“

„Armen“, sagte Armen.

„Armen... schöner Name!“ lächelte Vardi. „Na gut, auf Wiedersehen, Armen.“

„Ihr Name ist noch schöner!“ rief ihr Armen etwas verspätet nach, ohne sich umzudrehen. Er fühlte, dass er Angst hatte, zurückzuschauen, um dem Blick des Mannes unter der Laterne nicht zu begegnen. Es schien ihm, der Mann schaue unverwandt auf ihn…  

„Und, gefällt sie dir...?“ Die Zeitungsverkäuferin zeigte mit dem Kopf geheimnisvoll in die Richtung, in die Vardi gegangen war, ihre Augen glänzten. „Du hast keinen schlechten Geschmack. Obwohl, offen gestanden, auch sie verrückt ist...“ Sie begann die Sonnenblumenkerne Stück für Stück von der Zeitung aufzulesen und sich geschickt in den Mund zu werfen. „Was hat es zum Beispiel zu bedeuten, wenn ein so schönes junges Mädchen alle Bewerber abweist, aber selbst alle Häuser abklappert und auf Kinder fremder Frauen aufpasst, wie wenn ihre behinderte Großmutter ihr wenig Sorgen machte? Dabei ist sie nicht mal von hier, sondern fremd wie du; ihr würdet also zueinander passen... Vielleicht nimmst du sie zur Frau und machst mir aus diesem Anlass ein schönes Geschenk, oder...?“ Die Zeitungsverkäuferin starrte Armen an und kicherte listig. „Von meiner Arbeit habe ich ja kaum was...“

Armen blieb still. Die Frau begann ihre Kleider abzuschütteln. Kurz danach hielt ihr Mund inne und sie schlief ein, den Kopf auf die riesige Brust gesenkt...

 

II

Plötzlich juckte ihm die Spitze seines Zeigefingers: Eine winzige Ameise lief auf seinem Fingernagel auf und ab. Nach längerer Suche blieb die Ameise stehen, dachte etwas nach und stürzte sich kopfüber in den Abgrund, im nächsten Augenblick war sie auf Armens Oberschenkel. Nachdem sie sich erholt und in Ordnung gebracht hatte, setzte die Ameise ihre Reise zu seinem im Horizont ragenden Knie, auf dessen Gipfel sie wieder Halt machte und sich in Gedanken vertiefte. Vor ihren Augen breitete sich das riesige Tal seines Beins, das in vielfältigen Wogen hinabrollte, floss in der Ferne mit den unregelmäßigen Windungen des Schuhs zusammen und verlor sich im staubigen Licht...

In den unzähligen Unebenheiten des weiten Bodens blieb die Ameise unsichtbar, aber man konnte ihren Schatten sehen, der zwischen den Steinchen wankte. Bald erreichte sie den Zeitungskiosk und begann seine spitze Ecke senkrecht hinaufzuklettern. Jeden Moment konnte man meinen, dass sie hinabstürzen und auf dem Boden zerschellen würde. Jedoch strebte sie unermüdlich nach oben, ohne hinauf oder hinunter zu schauen. Für sie gab es kein Zurück, sondern nur ein Vorwärts, selbst dann, wenn sie zurückging. Die Ameise erreichte die Zeitungsbündel, kletterte flink durch die Falten des Papiers und tauchte oben auf dem Berg der Zeitungen auf. Sie machte vor dem Krümchen eines Sonnenblumenkerns Halt, schnüffelte eifrig daran, umfasste es mit seinen Saugrüsseln und kehrte mit der Last, die zehnmal so schwer war wie sie, freudig um. Also wusste die Ameise von Anfang an, wohin sie ging und weshalb, und sie zweifelte nicht daran, dass dieses Krümchen ihr gehörte...

Armen spürte, dass jemand aufmerksam ihn ansah. Er lenkte seinen Blick nach rechts und lächelte: In der schattigen Tiefe des glänzenden Glases des Kiosks erblickte er sein eigenes Gesicht. Einen Augenblick lang war es ihm, als ob derjenige, der ihn so aufmerksam ansah, der richtige Armen sei, während es bei demjenigen, der draußen am Geländer des Gehsteigs lehnte, um sein Spiegelbild handelte. Er selbst ist sein Spiegelbild...

„Wie ein echter Spiegel...“ flüsterte Armen, indem er mit Augen das Kioskglas musterte, und der Spiegel war wie in seiner Kindheit ein Rätsel, ein unergründliches Geheimnis. Als er noch so klein war, dass er in der Hütte ihres unter dem Aprikosenbaum angeketteten Hundes frei stehen konnte und den Hund bat, ihm Bellen beizubringen, und dieser nur gähnte, als sage er „Ach, keine Lust!...“ und seinen Kopf schüttelte, gerade damals hatte er unzählige Male vor Verzweiflung geweint; ihm gab das Geheimnis des Spiegels keine Ruhe und er wollte unbedingt einen Spiegel basteln, um zu erfahren, was der Spiegel sei; er kletterte in den Tonir[1] hinunter und bestrich eine Glasscherbe immer wieder mit dem allerfeinsten Ruß des Ofens, drehte sie dann um und sah darauf, aber was er in seinen Händen hielt, war dasselbe Glas, nur dreckig schwarz. Sein einziger Trost war, dass die Ränder der Glasscherbe wie bei dem richtigen Spiegel in der Sonne farbig leuchteten, und wenn ein Regenbogen entstand, so mutete er immer wie der farbige Abglanz des Rands eines großen, unendlich großen Spiegels an und die ganze Welt – das Dorf, der Hund, der Wind, die Berge und die Menschen – lebte in diesem Spiegel...

Plötzlich fiel ein Schatten auf Armens Gesicht und sein Herz erbebte. Er drehte den Kopf und traute seinen Augen nicht: Das veilchenblaue Mädchen verschwand hinter dem Kiosk. Im Nu war Armen zwischen dem Kiosk und der parallel zu ihm verlaufenden Mauer, er flitzte gleichsam durch die Luft und tropfte aus dem Himmel vor das veilchenblaue Mädchen hinab. Diese erstarrte auf der Stelle. Ihre Augen trafen sich, das veilchenblaue Mädchen lächelte sanft und senkte schüchtern den Kopf. Armen führte seine Hand zu ihren Haaren, zog sie aber, wie auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen, wieder zurück und lehnte sich mit der Schulter an die Wand des Kiosks. Er wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Er vernahm nur das dumpfe Pochen des Bluts in seinen Schläfen und spürte seine vor Kraft berstenden Hände. Er hatte das Gefühl, das veilchenblaue Mädchen würde als ein wesenloser Schatten sogleich verschwinden, wenn er sie mit Wort oder Geste anrühren würde. Das veilchenblaue Mädchen trat von einem Fuß auf den anderen, bewegte die feinen Lippen, sagte aber nichts. Armen betrachtete still ihr leuchtendes Angesicht, die schlichten Linien der Schultern, das ein bisschen gerötete Grübchen des Halses, den herrlichen Busen, und es war ihm, als sei es der lebendige Leib eines aus der Luft entstandenen lichten Geschöpfes, das mit seinem Atem die ganze Welt erfüllte...

„Am Abend... um neun...“ vernahm Armen das leise heimliche Geflüster, „am Fatumin-Denkmal...“

Er erwachte aus seinen Gedanken. Die langen seidig glänzenden Haare und die durchsichtigen Kurven des feinen Rückens des veilchenblauen Mädchens schwanden langsam in der Sonne...

„Du bist aber ein Geschickter!“ hörte er eine tiefe und schalkhafte Frauenstimme von hinten. „Dir entgeht ja keine!“ lachte die Stimme.

Armen drehte sich um: Mit einem neidischen Lächeln im Gesicht lugte aus der halboffenen Hintertür des Kiosks die kauende Gestalt der Zeitungsverkäuferin hervor.

 

III

Vor dem Laden war eine lange unregelmäßige Schlange von wartenden Menschen entstanden, die wegen der sich überschneidenden Schatten doppelt so lang schien. Armen stellte sich hinter einer alten Frau mit einer Krücke. Die Menschenmenge schlängelte sich bis zur begehrten Tür, die gleichgültig geschlossen blieb. Es ist ein erstaunliches Gefühl, sich unter Leuten zu befinden, man kommt sich verdoppelt vor. Du siehst jede Menge bestimmte Gesichter, die sich unverwechselbar voneinander unterscheiden. Der Einzige, der kein Gesicht hat, bist du selbst. Wer alle Gesichter sieht, hat selbst kein Gesicht. Das ist, was Menge heißt. Du selbst bist die Menge. „Geschlossene Tür“.

Der Straßenlärm hob sich von dem der Autos ab; es war, als lärmte der Lärm, um zu lärmen, und das war eine eigentümliche Art, still zu bleiben. Ein hitziges Geplänkel stach ihm in die Ohren. Eine Gruppe streitender Halbstarker. Drei saßen auf dem staubigen und verblichenen Geländer, das die Straße umsäumte, der vierte stand vor ihnen. Der, der in der Mitte saß, die langen Haare hingen ihm in die Augen, versuchte schäumenden Mundes die anderen zu überzeugen, dass er imstande war, eine ganze Flasche Bier auf einmal, ohne aufzuatmen, auszutrinken; der, der vor ihm stand, ein dünner Langhals, widersprach ihm heftig, indem er meinte, so was sei unmöglich, weil man ohne Luft ersticken würde...

„Du Idiot!“ schnaubte der auf dem Geländer Sitzende außer sich, er reckte sich und stieß den Dünnen heftig an.

Es entstand ein wildes Gezänk. Die Drei fielen über den Dünnen her, diesem gelang es jedoch, sich loszumachen und die Flucht zu ergreifen. Die anderen verfolgten ihn bis zur Straßenecke und kurz danach verhallten ihre Stimmen. Die Menge, die von dieser Szene aufgewühlt war, beruhigte sich wieder.

„Diese Rabauken!“ sprach ein alter Mann mit einem Kopfschütteln.

„Wie hübsch!...“ flüsterte jemand begeistert von hinten.

Armen drehte sich um. Ein Junge mit einem geschorenen Kopf und einem neubehaarten Gesicht sah hingerissen zum Zaun des gegenüberliegenden Hauses hinüber; daran hing ein buntes Plakat, aus dem das müde und bescheiden siegreiche Lächeln einer schönen Frau mit tiefem Ausschnitt strahlte, den geheimnisvollen Hintergrund bildeten das Publikum, das ihr stehend Ovationen brachte, und die ins Halbdunkel getauchte Bühne; darunter stand in großen Buchstaben: „Einmalige Kombination von betörendem Charme und vollkommener schauspielerischer Meisterschaft.“

„Ruhe!“ ermahnte eine junge Frau in engem Kleid ihr Kind, bei dem es sich um ein etwa dreijähriges Mädchen mit zu einem Schmetterlingsknoten gebundenen Haar handelte, das unentwegt die Mutter am Arm zog. „Sie lässt mich nicht in Ruhe mit Leuten ein paar Worte wechseln“, klagte die junge Frau, an eine ältere Frau gewandt, die neben der Alten mit der Krücke stand. „Eine richtige Nervensäge!“

„Mein Enkel ist nicht anders“, sprach eine bebrillte Frau tröstend, die etwas abseits stand.

„So ist das, immer wieder Wäsche waschen, das Kind, die Küche – und dann schaust du dich um und siehe da, das Leben ist vorbei“, echote die ältere Frau und seufzte schwer. „Ach!“ winkte sie resigniert ab und wandte sich an die Alte mit der Krücke: „Na, und wie sieht ’s aus? Ist deine Kuh wieder gesund oder liegt sie noch im Stall?“

„Was?“ sagte die Alte mit der Krücke mit zitternder Stimme. „Sprich lauter, ich höre schlecht.“

„Ich sage, deine Kuh, deine Kuh!...“

„Ach, ach....“ schluchzte die Alte auf. „Ich sollte sterben, nicht dieses arme Vieh!...“

Wie auf Befehl verstummten plötzlich alle Stimmen und alle Augen starrten mit Ungeduld den Treppenabsatz des Ladens an, wo ein kleiner Mann in alten schmutzigen Kleidern erschienen war, wohl der Lastträger des Ladens. Er richtete einen ernsten und prüfenden Blick auf die Menge, dann drehte er sich langsam um und schloss mit würdevollen Bewegungen feierlich die Ladentür auf.

 

IV

Vor dem Ausgang hatte Armen keine Geduld mehr und öffnete die Einkaufstüte. Ja, das Brot und das Stück Käse waren echt, besonders der Käse... Er führte die Tüte zur Nase und roch daran. Wie schön das Leben ist!...

Vor der Ladentür im Schatten des Treppenabsatzes saß der Lastträger, das Kinn aufgestützt, und schaute müßig und faul auf die Straße. Armen blieb vor ihm stehen und knüpfte ein Gespräch an.

„So müßig sitzt du hier und schaust so in die Gegend!“ Armen legte seine Hand freundlich auf die Schulter des Lastträgers. 

„Müßig bin ich nicht!“ erwiderte der Lastträger gewichtig, indem er Armen von Kopf bis Fuß maß. „Ich denke stark nach.“

„Worüber denkst du stark nach?“ lächelte Armen.

„Mein Sohn geht mir nicht vom Halse, will Geld, um mit seiner Klasse Altertümer besichtigen zu gehen. Ich sage ihm: ‚Woher kann ich dir so viel Geld geben, mein Sohn? Siehst du denn nicht, wie sehr ich mich abrackere? Hier bei uns gibt ’s so viele alte, verfallene, verlassene Häuser oder auch dunkle und feuchte Gruben und Keller; klappere sie mal ab, da hast du Altertümer besichtigt!“ Der Lastträger stöhnte bitterlich. „Hab ich etwa nicht Recht?“

Armen lachte.

„Ja!“ sagte der Lastträger mit einem leicht gekränkten Nachdruck. „So ist das... Du aber meinst, ich sitze hier müßig...“

Armen wollte plötzlich dem Lastträger von der „Welt der Kinder“ erzählen, besann sich aber im letzten Augenblick anders.

„Guck mal…“ sprach der Lastträger  wieder, kindlich erstaunt, „ein so wuchtiger Mann und hat alte und dreckige Klamotten an wie ich...“

„Wer?“ fragte Armen verständnislos.

„Der da...“ Der Lastträger zeigte mit dem Kopf auf einen großen Mann auf dem gegenüberliegenden Gehsteig, der im Gehen mit der Hand sein altes dreckiges Kleid abklopfte.

„Ja und...?“

„Wieso?“ wunderte sich der Lastträger noch mehr. „Wenn ich auch so wuchtig wäre, hätte ich die ganze Welt in der Hand...“

Armen winkte ab und begann die Treppe hinunterzusteigen.

„Wenn du beschließt, Handel zu treiben, sag ’s mir, ich werde dir tüchtig helfen“, hörte er die Stimme des Lastträgers hinter sich. „Zusammen können wir schon große Geschäfte machen.“

„Abgemacht!“ entgegnete Armen, ohne sich umzudrehen.

Im Staub des Gehsteigs lag ein alter vergilbter Briefumschlag, den wohl jemand im Gedränge verloren hatte. Armen hatte einen Augenblick das Gefühl, der Brief sei an ihn adressiert, und hob den Umschlag unwillkürlich auf. Dieser war leer, Absender und Empfänger waren gleichermaßen unleserlich, auf der halbzerstörten Kuppel eines historischen Denkmals, das rechts auf dem Umschlag abgebildet war, saß wie ein unbekannter Vogel ein schwarzer Fingerabdruck...

Armen legte den Umschlag auf die Stufe und als er sich wieder aufrichtete, blieb sein Blick auf der Ecke des gegenüberliegenden hinfälligen Hauses haften. Im netzartigen Schatten des vertrockneten Baums, der aus der Mauer des Hauses schräg herausstak, neben einem Müllhaufen stand eine dünne knochig gebaute Frau mit zerzaustem Haar und einer roten entzündeten Nase; unter dem schmutzigen Kleid, das wie ein Lappen aussah,  ragte ihr riesiger Bauch heraus, der riesige zahnlose Mund ging auf eine seltsame Weise auf und zu; die Frau bemühte sich, die leblos hinabhängenden Hände zu heben, aber schien es sogleich zu vergessen; die schlichten Konturen der schmalen Schultern bewahrten noch den Rest der Erinnerung aus ihrer Mädchenzeit; ihre trüben Augen starrten einen Augenblick lang Armen an, dann erloschen sie wieder... Armen schüttelte unwillkürlich die Schultern, einen Moment lang spürte er die wurzellose Unbeweglichkeit des vertrockneten Baums und ein Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf: Die Frau ist schwanger...

„Sie hat das Kleid meiner Frau an“, sagte der Lastträger vom Treppenabsatz her. „Vor drei Jahren hatte es meine Frau einmal zum Trocknen über den Zaun geworfen und diese Dirne hat es einfach geklaut.“ Der Mann grinste. „Aber ich sagte nichts, weil ich in früheren Zeiten mit ihrem verstorbenen Mann immer ein Stück Brot geteilt habe; ihr Mann war ein anständiger Kerl, der angesehenste Müllmann von Kitak; als er noch lebte, war Kitak ganz sauber, auf den Straßen hättest du keinen Fetzen Papier gefunden, jetzt aber nimmt der Müll überhand und droht uns zu verschlingen...“ Der Lastträger stöhnte und streckte sein Bein aus. „Aber der arme Mann hat ein sehr böses Ende gehabt: Einige junge Leute, die der Hafer stach, fassten den armen Kerl, nahmen ihm seinen Arbeitslohn weg und schlugen ihm mit dem spitzen Ende eines Autoschraubenziehers ein Loch in den Kopf, so dass sein Hirn hinausfloss, unter den Baum...“ Der Lastträger kratzte sich eifrig das Knie. „Sie hatten nicht einmal daran gedacht, die Leiche in den Fluss zu werfen, sondern mit den Schuhspitzen Müll über sie geworfen und ihn unter dem Müll begraben; dann hatte ein paar Monate später der Regen den Müll weggespült, die verfaulte Hand ragte plötzlich heraus, am Gestank konnte dann die Leiche entdeckt werden...“

„Aber weshalb?“

„Was weshalb?“

„Aus welchem Grund?“

„Nun...“ sprach der Lastträger gedehnt, „ohne Grund, einfach so; sie waren betrunken, lustig gelaunt; sie hatten zu dritt den armen Kerl gefasst, ihm die Arme und Beine gebunden; der eine hatte geprahlt, dass er mit einem Schlag den Schädel zertrümmern könnte, die anderen hatten nicht geglaubt, sie hatten gemeint, dass der Schädel eines Menschen härter als Eisen ist. So waren sie eine Wette eingegangen und ...“

„Wie viel Jahre haben sie bekommen?“

„Wer?“ fragte der Lastträger verständnislos.

„Na, die Täter...“

„Ach“, winkte der Lastträger ab. „Man sprach sie alle dank falschem Zeugnis frei, es hieß, die richtigen Täter sollte man erst finden, und man stellte das Verfahren ein. Na ja, der Tote war nur ein Drecksammler, wer sollte ihn schützen...?“ Er hielt gedankenverloren inne. „Deshalb schärfe ich meinem Sohn immer wieder ein, dass man Handel treiben soll; Handel allein ist das Richtige. Treibst du Handel?“ fragte er, die Augen zusammengekniffen.

„Nein...“ antwortete Armen zerstreut.

„Ich rate dir, treib Handel!“ sagte der Lastträger nachdrücklich. „Wenn der Verstorbene Handel getrieben hätte, wäre ihm garantiert so was nicht passiert...“

Armen blieb still. In sich zusammengesunken hatte er seinen Blick auf den Boden vor seinen Füßen geheftet. In seinem Innern sah er, wie man diesen Mann tötete, wie man den Müll mit Schuhspitzen über die Leiche warf, aber er konnte sich die Täter nicht vorstellen. Das wies auf einen verhängnisvollen Fehler an, dessen Folge der Mord schien gewesen zu sein...

 


[1] Armenischer rundförmiger Backofen, der im Boden versenkt liegt und durch ein Holzfeuer erhitzt wird. Der Tonir ist 1 bis 1,5 m tief (Anmerk. des Übersetzers.)

 

© Levon Sargsyan

© Sevak Aramazd