SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005

Dritter Teil, Kapitel 3

I 

Der Dampf stieg, unzählige Formen bildend, wie ein weißer Rauch in Windungen aus dem Eimer, verbreitete sich in der Luft und schwand im Licht. Das Bild hatte etwas vertraulich Feierliches und beim Hemdausziehen fühlte sich Armen von dem geheimnisvollen Schauer erfasst, den er verspürte, wenn er den kleinen Tempel seines Dorfes betrat, die auf dem Gipfel eines Berges stand, wenn der in friedliche Stille eingehüllte Altar so fern und unerreichbar erschien, obwohl bloß drei Schritte ihn von dem Altar trennten... Armen legte seine Kleider beiseite und hatte auf einmal das Gefühl, er sei wieder ein kleines Kind und seine Mutter stehe eine Wasserschale in der Hand still über seinem Kopf. Aus der Tiefe des durchsichtigen Schleiers des Dampfes leuchtete plötzlich einen Augenblick lang der Blick des veilchenblauen Mädchens auf und Armen spürte auf seinem Gesicht die stille Berührung ihrer zarten Lippen...    

Er ging eifrig an die Arbeit. Obwohl seine Bewegungen schroff und zielgerichtet waren, war er ganz auf seine Begegnung mit dem veilchenblauen Mädchen konzentriert, jedoch konnte er sich erstaunlicherweise keine einzige Einzelheit vergegenwärtigen; jedes Mal, wenn seine Gedanken einen bestimmten Punkt erreichten, stolperten sie gleichsam und fielen auseinander, und von allen Seiten drangen vage Fetzen von Überlegungen, die mit dieser Begegnung nichts zu tun hatten, dann strahlte das Gesicht des veilchenblauen Mädchens wie aus der trüben und wolkenbedeckten Tiefe des Himmels wieder auf und alles begann von neuem...

Als Armen die Schale ins Wasser tauchte, fühlte er scharf die Formlosigkeit des Wassers und eiskalt lief es ihm über den Rücken. Alles schien auf einmal in der Vergangenheit geblieben zu sein und er sah sich hier, an diesem Tag, klar und deutlich; es gab nur die leuchtende Sonne in der Ferne, die sich langsam gegen den Abend neigte, und ihn selbst. Die Wasserstrahlen, die auf seinen Kopf fielen, senkten sich wie ein wogender Vorhang und bedeckten seinen Körper ganz; die Welt verschwand und er tauchte in einer grenzenlosen Dumpfheit auf...

„Wie kommt es, dass ich - ich bin...?“ flüsterte er verwundert, indem er seine Arme, seine Brust, seine Beine betrachtete, und er spürte klar, dass er nicht dieser Körper war; der Arm existierte für sich selbst, die Brust für sich selbst, die Beine für sich selbst und er hatte damit nichts zu tun. Es waren nicht einmal Arm, Brust, Beine, sondern namenlose absurde Dinge und der Sinn des Körpers verschwand unwiederbringlich; nur er selbst war noch übrig geblieben und er wiegte sich über seinem eigenen Kopf. Die Welt oder das, was Welt hieß, entfernte sich und verlor sich in der Tiefe eines farblosen Nebels und er begriff, dass es die Rückseite des Lebens war, wo kein Ding Sinn hatte, nicht einen guten Sinn, nicht bösen, nicht glücklichen, nicht traurigen, nicht wichtigen und nicht unwichtigen, sondern alles war einfach da und einen Augenblick lang sah er in der Luft sein eigenes Gesicht, zuckte zusammen und kehrte zurück, zur Welt...

Er fand sich in dem engen Raum zwischen zwei Bäumen, auf einem untauglichen Brett splitternackt sitzend, das Gesicht hatte er mit beiden Händen fest bedeckt, und er tat sich selbst so leid, dass er ein Mensch war, gezwungen zu leben, unendlich lang zu leben, einen Tag, zwei Tage, drei Tage... aber dann spürte er, dass das Bewusstsein seines Körpers zurückkehrte und das Blut in seinen Händen strömte. Er ist einfach gebastelt, so einfach wie sein Häuschen gebastelt ist; die Füße sind an die Beine, die Beine an die Hüften angefügt, die Arme sind an die Schultern angeschlossen, der Kopf ist mit Sorgfalt auf den Hals gesetzt, die Augen sind ins Gesicht gebohrt und all das war so einfach, primitiv schlau, dass er über den unbekannten Einen würgend zu lachen begann, der angeblich all das erfunden hatte, und zwar in der erstbesten Form, und zum Namen dafür etwas kaum Verständliches genommen hatte: ‚Mensch’...

„Wie phantasielos...!“ warf er diesem unbekannten Einen vor. „Wie kann man alle Menschen nur in zwei Teile teilen: Mann und Frau. Hättest du nicht etwas Anständigeres, etwas Besseres dir einfallen lassen können...?“ Er lächelte nachsichtig und der Gedanke, dass er einer von diesen sein musste, machte ihn müde und ödete ihn an und das Leben erschien unmöglich...

Armen schüttelte den Kopf mit Bedauern und war plötzlich betroffen von der völlig eindeutigen Präsenz des Todes; einen Augenblick lang erlebte er die Möglichkeit der eigenen Nichtexistenz und verstand, dass die Aufgabe des Todes darin besteht, immer wieder an das Leben zu mahnen. Sein Armmuskel zitterte, eine Ader lag auf der anderen und auf der straffen Haut bebte ein klarer Wassertropfen, in dem sich der Sonnenschein spiegelte, und der Jubel, der grenzenlose Jubel darüber, dass er lebte, war, da und so, in dieser Gestalt war, umflutete ihn, und er fühlte wieder, dass er - er war, jung, stark und siegreich...

„Juchhe!...“ rief er, indem er das restliche Wasser über seinen Kopf goss. „Brr... hu...!



II 

Die Straße war still und öde. Das Licht wich, als sei es müde geworden. Es gibt also einen Augenblick, wo alles in der Welt leer ist. Hinter der fernen Steppe hing die Sonne, groß, rot, über dem Horizont und zögerte mit dem Abgang. Das Licht kam scheinbar nicht von ihr, das Licht war von selbst da, schwach und schwankend; über den Himmel und die Erde zerstreut, benetzte es die Abendstille. Die Welt war vielleicht groß, aber Kitak war größer, und was unsichtbar blieb, existierte nicht…

Die Kinder waren nicht da. Sie hatten ihre Welt verlassen und waren fort wie die kleinen Regenwürmer, die, nachdem sie ihren Anteil an Erde aufgelockert haben, verschwinden. Ihr Werk war vollendet. Armen betrachtete das mit unzähligen Spuren bedeckte Spielfeld; es war kaum zu glauben, dass man jemals dort etwas bauen würde. Ein bitteres Lächeln erschien auf seinem Gesicht und im selben Moment war er von einer klaren Ahnung des Endes gepackt. Er beeilte sich fortzugehen, als fühle er sich bedroht von diesem Spielplatz, aber sein Fuß stolperte über einen schwarzen und glatten Gegenstand, der zur Hälfte aus der Erde herausstak. Eine gewöhnliche Menschenmaske, mit einem Riss bis zur Nasenwurzel und innen hohl; die Kinder hatten wahrscheinlich damit gespielt und sie da liegen lassen.

Armen wollte die Maske wegwerfen, als er fühlte, dass sie ihm ähnelte. Er drehte sie hin und her, aber die Maske blieb ihm ähnlich: die Nase, das Kinn, die Stirn, die Lage der Augen und der Augenbrauen... Genervt, zerriss er sie, aber auch die halbe Maske glich ihm noch. Sein Gesicht war vielleicht ebenfalls eine solche Maske, an die er sich seit seinem Geburtstag so gewöhnt hatte, dass er sich ohne sie sich gar nicht vorstellen konnte...

Armen bekam Mitleid, ging unwillkürlich in die Knie, brachte die beiden Hälften wieder zusammen, legte die Maske dorthin, wo sie vorhin gelegen hatte, und begann sie mit Erde zu decken. Er glaubte, sich selbst zu begraben. Die Erde füllte sich schon ihm in die Augen, deckte seine Nase und stopfte sich ihm in den Mund. Der Weltraum war finster und in einem Augenblick waren Tausende und Abertausende von Jahren verstrichen. Sieh, da ging einer vorbei und stolperte über etwas. Er hob es auf und das war sein, Armens, zahnloser Schädel. Diese hässliche beinerne Kugel ist er. Er ist an einen Ort platziert, es ist befohlen, zu leben. Dann ist er nicht mehr da. Sein Platz ist leer, auf seinem Platz ist nicht-er oder das Nichts. Es ist indes unmöglich, dass etwas da ist und dann nicht mehr. Andernfalls sollte nichts existieren, auch der Schädel nicht. Wer war denn derjenige, wer seinen Schädel aufhob, abklopfte und zu studieren begann? Der Einzige, wer das hätte tun können, ist er selbst. Also die Zeit existiert nicht...

Armen stand auf und fühlte, dass es an dem Boden heller war als ringsum oben in der Luft. Je höher, umso dunkler. Er ging weiter, aber in seinem Innern lag eine Schwere. Etwas war unvollendet und falsch. Wenn dieser Jemand er ist, dann ist er nie gestorben, sondern er hat immer gelebt. Das bedeutet, das ist nicht sein Schädel, sondern eines anderen. Aber wie lässt sich feststellen, dass es ein fremder Schädel ist und nicht sein eigener? Fremde Schädel gibt es also nicht, aber auch sein Schädel ist es nicht, denn, sieh, er lebt. Dann gehört dieser Schädel niemandem, sondern ist einfach ein Schädel. Der Tod existiert dann vor dem Leben. Hm, dann gibt es auch den Tod nicht, er ist bloß eine Maske...      

Armen fühlte, dass diese Gedanken nicht in seinem Innern entstanden, sondern gleichsam aus der Luft, aus der Abenddämmerung in seinen Kopf stiegen. Und dass sie nicht ihm gehörten, freute er sich.

„Können Sie mir sagen, wo das Fatumin-Denkmal steht?“ fragte er munter eine hoch gewachsene, fein gebaute Frau, die hinter den Bäumen hervorgetreten war und die Straße hinunter schritt. Die Frau tat, als höre sie nicht, und ging vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Für sie war er natürlich nichts. Das macht nichts, Hauptsache, er ist er. Man liebt – kommt – geht – hasst – tötet – freut sich – betrübt sich – wird geboren – leidet – stirbt – träumt, was geht ihn das an? Möge kommen, was da will! Lass man tun, was man will! Hauptsache, er ist frei. Wie toll, dass er frei ist! Er lässt zu, dass das Leben existiert...

Ein seltsamer und grundloser Stolz erfüllte ihn allmählich. Armen sah nichts, dachte nichts, er ging nur, die Arme schwingend, mit großen Schritten dahin. Er hatte das Gefühl, er werde mit jedem Schritt größer, mehr noch, ein Riese, und die Erde zittere erschrocken unter seinen Füßen und könne seine Schwere nur mühsam tragen. Er hatte das Gefühl, mit sich alles bedeckt zu haben. Er barst vor maßlosem Hochmut und duldete die Welt nur mit großer Mühe. Nichtig und verachtenswert war alles, der Himmel, die Erde, das Gras, die Wege, die Menschen, er selbst, die Liebe, das Licht, die Leiden, die Träume. All das war für ihn Staub, nichts, Null. Er könnte sofort werden, was er nur wünschte; er bräuchte nur einmal zu zwinkern und würde Held, Dieb, Gelehrter, Mörder, Genie, Kaiser, Bettler, Ringer, Kuppler, Spieler, Sklave, Verräter, Landstreicher, Pilger, Arzt...  Das war aber nichts, mit seiner Kraft verglichen. Er war nur Kraft, eine freie, souveräne, verheerende Kraft, die aus ihm verströmte und alles unter sich begrub: die Welt, die Menschheit, die Zeit, den Himmel, die Erde. Und es gab nichts, aber auch nichts, was dieser Kraft standhalten könnte. Er war gleichsam verschwunden, in eine einzige Kraft verwandelt, die ihn unwiederbringlich zerstören, zermalmen würde. Seine Kraft war sein Feind, sein einziger Feind. Noch ein Augenblick, und er würde sich in der Luft zerstreuen, zu Staub zerfallen und verdunsten...

Und plötzlich durchdrang ihn Angst von Kopf bis Fuß, die arme, nichtige, gewöhnliche körperliche Angst, mit der momentanen Kraft des Blitzes durchdrang sie ihn und er blieb atemlos stehen. Er hörte einen dumpfen Knall in seinem Gehirn und es war ihm, als wäre er aus einer ungeheuren Höhe in den Abgrund gestürzt und wälzte sich dort unten fieberhaft hin und her. Er machte zögernd einen Schritt, schien aber rückwärts zu gehen. Durch einen dunklen Durchgang fegte er mit einer unheimlichen Geschwindigkeit rückwärts. Vor seinen Augen erschien in einem trüben und lauwarmen Nebel plötzlich das veilchenblaue Mädchen, und das schien das Ende zu sein. Er zögerte einen Augenblick, dann fiel er über das veilchenblaue Mädchen her und begann ihren Leib zu fressen; er küsste sie, küsste gierig ihre Schultern, ihren Hals, ihre Haare, zerriss ihre Kleider, seine Fingernägel in ihre weichen Brüste einbohrend, trank ihr quellendes purpurrotes, heißes Blut... Das veilchenblaue Mädchen stand indes die ganze Zeit reglos und ihr Gesicht blieb unsichtbar. Er suchte ihr Gesicht, aber das Gesicht war nicht da, es war ausgelöscht, stattdessen schwieg ein schwarzer undurchsichtiger Schleier. Er fasste danach und versuchte immer wieder den Schleier herunterzureißen, aber das wollte ihm in keiner Weise gelingen und nur seine Finger begannen zu bluten. Plötzlich fiel ein dunkel riesiger Schatten über all das und das veilchenblaue Mädchen verschmolz mit der Finsternis und verschwand...

Armen kam zu sich und fühlte, dass er von Schweiß triefte. Er hatte schon den Wald betreten. Sein Gehirn war wie benebelt und nur sein Herz pochte stark. Er war ein gefühlloses Tier, das schwer wankend auf dem zertretenen Waldpfad gleichgültig ging. Er schaute auf die gewaltigen Bäume, die sich ringsum erhoben und fühlte, dass die unstillbare Sehnsucht nach der Liebe einen dunklen Zusammenhang mit dem Tod hatte, als wenn die Liebe und der Tod ein abgrundtiefes Bündnis eingegangen wären. Sie beiden waren in Wirklichkeit identisch, nur etwas, was im Leben in einem Fall Liebe und in dem anderen Tod hieß und eine Hälfte der Welt unter dem Namen „Liebe“ und die andere unter dem Namen „Tod“ beherrschte. Das war das große Geheimnis und Armen hatte auf einmal das Gefühl, dass er diese verborgene, dunkle und grenzenlose Welt, die schweigend jenseits dieser lag, für immer begreifen würde. Aber der Augenblick verflog, ohne eine Spur zu hinterlassen, und er stieß einen tiefen Seufzer aus: es ist unmöglich, ein Mensch zu sein und zu leben...

 

III

Der Pfad schlängelte sich und vertiefte sich in den Wald hinein, ringsum wurde immer dunkler. Bald erreichte Armen einen kleinen Wegscheid, wo sich der Pfad in zwei Pfade teilte, der eine bohrte sich in das undurchdringliche Gesträuch ein, der andere bog schroff nach rechts. Armen wählte den letzteren, weil diese Seite wegen der wenigen Bäume heller zu sein schien. Ohne jemandem zu begegnen, erreichte er eine Weile später den Rand des Waldes und blieb dort stehen; vor ihm öffnete sich ein trockenes baumloses Tal, in dem sich eine ärmliche Siedlung ausbreitete. Dort konnte unmöglich das Fatumin-Denkmal sein. Armen überlegte kurz, dann ging er auf dem Pfad weiter.

Parallel zum Wald zogen sich kleine Holzhäuser mit Dächern, die gegeneinander lehnten, schiefen Zäunen, die davon zeugten, dass in diesen Häusern Menschen wohnten, jeder für sich, während es dieselbe Erde war, derselbe Himmel, mit derselben gleichgültigen Finsternis erfüllt. An dem nächsten Zaun saß im Dunkel eine alte Frau, den Kopf auf die Knie gestützt, still und allein. Wer sie war, warum sie dort saß, war unbekannt. Ihr Leben war so unbekannt wie sein – Armens – Leben der ganzen Welt unbekannt blieb. Die Unbekanntheiten aller Leben vereinigen sich und lassen die große Unbekanntheit des großen Lebens entstehen. Armen ging lärmend an ihr vorbei, die Alte blieb reglos und wortlos sitzen, dann verschmolz sie sich mit der Finsternis, schwand dahin...

Im Hof eines Hauses, das fernab von der Straße lag, trieb eine Frau, schreiend und schimpfend, die Kuh zum Stall, aber jedes Mal an der Finsternis der Stalltür angelangt, scheuchte die Kuh zurück, und die Frau, die, vorhin sanft geworden, den Rücken der Kuh streichelte und dem Tier gut zuredete, erhitzte sich wieder und schimpfte noch heftiger. Er vernahm das dumpfe Plätschern eines Gegenstandes gegen das Wasser, wahrscheinlich fiel ein Eimer in den Brunnen, im selben Moment hörte er von der Gegenseite heftig streitende Stimmen eines Mannes und einer Frau, ein Hund bellte schrecklich, winselte dann kläglich und verstummte, und auf einmal brach irgendwo in der Nähe ein heiser betrunkenes Lied:

 

„Vom ganzen Herzen

Hatte ich sie lieb;

Brennende Schmerzen –

Was mir übrig blieb...“

 

Das Lied wurde von einem sonderbaren, mit der Melodie gar nicht verbundenen dumpfen Klopfen begleitet. Die Melodie hatte etwas kindlich Holdes, Zerbrechliches. Der Singende dehnte die Töne und betonte die Wörter stark, als wäre es für ihn ein besonderer Genuss, das Lied derart zu entstellen und zu zerstückeln und die Wörter willkürlich zu behandeln. Dies verlieh seiner Stimme die leichte und heitere Gabe, traurigen und schweren Sachen eine scherzhafte Wendung zu geben. Armen suchte mit den Augen und erblickte im matten Abendlicht an dem Zaun des letzten Hauses einen kleinen Mann, der, einen leeren Eimer unter dem Arm, auf einem Stumpf saß und auf dem Boden des Eimers mit den Fingern trommelnd entzückt sang. Mit jeder Wiederholung wurde das Lied immer ernster und trauriger. Armen wandte sich zum Gehen, als plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihm die riesige schwarze Masse des Waldes erschien, und plötzlich verstummte das Lied. Eine Frau mit Kopftuch versuchte wütend, dem Singenden den Eimer zu entreißen.

„Sie hätten dich dort im Knast wie einen Hund umbringen sollen, dann würdest du mir nicht auf die Pelle rücken!“ schnaubte die Frau zornig. „Komm, rasch! Treib die Kuh hinein...!“ Die Frau trat, den leeren Eimer nervös schwingend, in den Hof. Der Mann blieb eine Weile auf dem Stumpf sitzen, dann stand er mit einem schweren Seufzer auf und hinkte der Frau nach.

Armen hörte hinter sich ein Flüstern. Am Rand des Pfades, unter einem kleinen einsamen Baum saß ein nacktes Kind von etwa sieben bis acht Jahren, neben ihm lag ein kleiner Haufen winziger Steinchen. Mit feierlichen Bewegungen nahm er ein Steinchen nach dem anderen und legte sie auf der anderen Seite in einer Reihe.

„Was machst du da?“ fragte Armen.

„Ich zähle die Sterne“, erklärte das Kind ernst und gewichtig, ohne aufzusehen.

„Wie denn?“ lächelte Armen.

„Einfach so“, entgegnete das Kind.

Armen lachte.

„Das sind gewöhnliche Steine“, erwiderte er. „Du aber sagst, Sterne...“

„Das sind Sterne“, sagte das Kind. „Aber einmal haben sie ihrem Vater nicht gehorcht, sind im Schlaf vom Himmel heruntergefallen und erloschen. Wenn ich vierundzwanzig Sterne finde und sie meinem Vater zeige, wird er mich mitnehmen...“

„Wohin?“

Das Kind würdigte ihn keiner Antwort, es zählte flüsternd weiter.

„Wohin mitnehmen...?“

„Das ist mein Geheimnis, niemand darf es erfahren außer meinem Vater“, sagte das Kind. „Nicht mal meine Mutter weiß es.“

„Vielleicht weißt du es selber nicht?“

„Du störst“ Das Kind runzelte die Stirn. „Stör mich nicht oder ich sag’s meinem Vater.“

„Gut, ich spreche nicht mehr!“ sagte Armen. „Nur, kannst du mir sagen, wo das Fatumin-Denkmal steht?“

„Du gehst richtig“, antwortete das Kind. „Geh, du wirst es finden.“

„Danke.“

Das Kind murmelte weiter vor sich hin.

Kurz vor dem Wald wurde der Pfad durch eine schmale Holzbrücke mit Geländer unterbrochen. Es gab immer mehr Mücken. Es roch plötzlich scharf nach Fäulnis. Mitten auf der Brücke standen ein Junge und ein Mädchen. Das Mädchen lehnte gesenkten Kopfes gegen das Geländer, der Junge schaute, die Hände auf dem Geländer, zu dem Wald hinüber. Die Beiden schwiegen. Ihr Anblick und ihr Schweigen hatten einen reinen, ungekünstelten Sinn; es war, als ob ein Unsichtbarer diese beiden an den Händen hierher gebracht und nebeneinander gestellt hatte. Er selbst war etwas Jämmerliches im Vergleich zu ihnen: ein alter, schon verdorbener Mann. Armen brachte es nicht über sich, in ihre Gesichter zu sehen; er ging, den Blick nach unten gerichtet und gesenkten Kopfes, an ihnen vorbei. Und plötzlich erschauerte er: Unter der Brücke war ein Sumpf, ein dunkler, zäher, stinkender Sumpf...

„Sie wird kommen...“ sprach Armen zu sich selbst, als er wieder den festen Boden unter seinen Füßen spürte. Es kann nicht sein, dass das veilchenblaue Mädchen nicht kommt. Sie zieht sich jetzt wahrscheinlich ihr bestes Kleid an, macht sich die Haare und das Gesicht zurecht, rückt mit einer leichten Gebärde den Teil des Kragens zurecht, der etwas schief liegt, unterdessen flüstert sie eilig ihrer Freundin zu, was für einen wunderbaren jungen Mann sie kennen gelernt habe; die Freundin versteckt ihren Neid unter einem verlegenen Lächeln...

In seinem Innern stieg das veilchenblaue Mädchen immer höher und es wurde wieder unerreichbar, so dass er wieder das Gefühl hatte, nicht einmal ein paar Worte mit ihr wechseln zu können; sie würde alle seine Gedanken lesen, alle seine Gefühle erahnen, noch bevor er etwas denken oder fühlen könnte. Armen war verzweifelt; einen Augenblick lang dachte er daran, umzukehren, als er plötzlich den Atem des veilchenblauen Mädchens in seinem Gesicht spürte; die Erinnerung an ihr willfähriges Aussehen und ihren demütigen Blick ließ ihn sich mit neuer Kraft zu ihr stürzen.

 

 

IV

Als er wieder in den Wald trat, glaubte er, in das Reich der Finsternis geraten zu sein. Ringsum waren unzählige dunkle Gespenster, die, ihre Köpfe unmerklich schüttelnd, untereinander wortlos über ihn tuschelten. Eine Fledermaus flitzte über seinem Kopf und auch das war kein Zufall. Er war ein verlorenes Kind, das von bösen Geistern verfolgt wurde. Jeden Augenblick könnte etwas passieren; zum Beispiel könnte jener Busch, der sich in einen weiten und schwarzen Laubmantel eingehüllt hatte, plötzlich Hand und Fuß bekommen und über ihn herfallen. Wenn er nur einem Menschen oder einem streunenden Hund begegnen würde!... Aber da war schon auch der bekannte Pfad. Armen atmete tief ein: Nein, er war nicht Herr über sein Leben...

Der Pfad wurde immer breiter; immer häufiger sah er Stümpfe und hier und da gestürzte entwurzelte Bäume und Sträucher. Drüben standen die Wipfel der Bäume in einem matten Licht, das Ende des Waldes war also nicht mehr fern. Armen erreichte eine sehr große runde Lichtung, in deren Mitte er eine dunkle Masse sah, die von Zeit zu Zeit schnaubte. Es war eine Kuh, die, den Kopf in die Höhe gereckt, ruhig gelassen kaute, während ihr Besitzer sie wahrscheinlich anderswo suchte. Armen wollte schon „Hü-hü“ rufen, besann sich aber im letzten Moment anders: So könnte der Besitzer die Kuh schneller finden.

Ein heftiger Wind stieg auf und der Wald füllte sich mit einem allumfassenden Rauschen, das alles, was Armen erlebt hatte, gleichsam wegfegte. Hinter ihm war Leere. Die Bäume wiegten sich und ließen einen stürmischen Wirbel von Licht, Schatten und wieder von Schatten der Schatten entstehen. Ein Baum in der Nähe schüttelte sich besonders heftig wie im Fieber; er kam – ging – floh – wich zurück – widersetzte sich – griff an – schwieg – schrie...

Da tauchte endlich die große Straße auf, die unheimlich schnell auf die Ungewissheit hin strebte. Es war eine selbstzufriedene, hochmütige Straße, die mit ihrer unzweifelhaften Existenz gleichsam sagte, dass alles außer ihr klein, nichtig und nur verachtenswert war. Die Laternen, die auf den beiden Seiten demütig standen, bewachten sie und der Wind wiegte ihre Öde. Armen erschauderte und erstarrte: Im wiegenden trüben gelblichen Licht der Straße lag ein zertrümmerter Mann, der krampfhaft zappelte und einen Arm schwach erhob und wieder kraftlos fallen ließ. „Ermordet...!“ Dieser Gedanke explodierte in Armen und widersprüchliche und sonderbare Empfindungen begannen in ihm mit einer stürmischen Geschwindigkeit einander abzulösen. Der allumfassende Schrecken der ersten Minute wich der dunklen Ahnung, dass dieser Mord unmittelbar mit ihm zusammenhing und dass, wenn er sich in diese Geschichte einmischen würde, es ihn das Leben kosten würde. Im nächsten Augenblick sah er schon, wie man ihn abführte, verdächtigte, verhörte, verprügelte und folterte, damit er seine Schuld gestünde; dann wie er langsam auf den dunklen Boden des zähflüssig-sumpfigen Wassers sank, sich mit dem Schlamm vermischte und aus der Welt schwand... Jedoch all das war mit einem hoffnungslosen Schamgefühl, einem zerfleischendem Selbsthass und einer düsteren, mitleidslosen Wonne vermengt, deren Abglanz er einen Augenblick lang vor sich zu sehen glaubte. Aber sowohl sein Denken als auch seine Seele blieben hinter seinem Instinkt zurück; er kam erst dann zu sich, als er stolpernd und am Gras zerrend hinaufkletterte. Am Rand der Straße blieb er stehen und hielt den Atem. Dann lief er auf den Mann zu. Dieser entpuppte sich indes als eine zerfledderte Pappkiste; ein langer Zipfel bog sich im Wind mühsam hin und her... Armen war verblüfft: Die Freude darüber, dass er gerettet war, dass auch der Sterbende gerettet war, stieß immer wieder auf eine befremdliche, verborgene Enttäuschung. Er hatte das Gefühl, dass jemand in diesem Augenblick dennoch schon umgebracht worden war...

 

 

V

Das Gebäude war von dem dunklen Wald umgeben. Die wuchtigen Säulen und die düstere Gesamterscheinung zeugten davon, dass es sich dabei um eine sehr wichtige Einrichtung handelte. Im trüben blutroten Licht erinnerte es an einen riesigen Stier, der einen langen Weg zurückgelegt hatte und dann müde in den Wald eingebogen war, sich dort einen Platz gemacht hatte und nun da schwer saß und ausruhte, den dunklen Blick düster auf die Straße geheftet, als überwachte er den Verkehr dort. Man hatte den Eindruck, dass er jeden Augenblick mit einem Getöse aufstehen würde, um seine Reise durch die Finsternis fortzusetzen...

In der Ferne erschien das Fatumin-Denkmal. Die Lichtstrahlen der Scheinwerfer, die um das Denkmal aufgestellt waren, kreuzten sich gleich Feuerschwertern hinter Fatumin. Er stand siegreich auf seinem hohen Sockel, den Rücken im Licht, das Gesicht im Dunkel. Der gepflasterte Platz, auf dem das Denkmal stand, war menschenleer. Wo Armen das veilchenblaue Mädchen zu sehen erwartete, war es leer und diese Leere verletzte ihn.

„Gelogen...“ murrte er und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er wurde traurig: Unvollkommene Werke, unvollkommene Lieben, nur das Leid ist vollkommen. Aber nein! Es muss einen Ort geben, wo das Leben vollwertig ist, herrlich, schmerzlos. Und dieses Leben ist ihm verschlossen. Das Gefühl der Machtlosigkeit wurde von dem des Selbstmitleids abgelöst, und er resignierte.

Am Denkmal angelangt, blieb er stehen und sah sich um, und auf einmal schwand der Aufruhr in seiner Seele dahin. Er fühlte, dass er angekommen war und die Begegnung zustande kam. Mit wem oder weshalb? – konnte er nicht sagen, aber die Begegnung war zustande gekommen. Vielleicht stand das veilchenblaue Mädchen unsichtbar neben ihm und er konnte sie einfach nicht sehen? Oder vielleicht gibt es sie überhaupt nicht...? Armen wurde von Zweifeln gepackt, er hatte plötzlich das Gefühl, dass er ihr in der Tat nie begegnet war und die ganze Geschichte lediglich Einbildung war, die er brauchte, um seiner unerträglichen Einsamkeit zu entfliehen...

Armen war ganz verwirrt. Sein Blick fiel auf das Denkmal und er beneidete Fatumin darum, dass dieser sein Leben so definitiv abgeschlossen hatte und, zu einem Denkmal geworden, auf dem Sockel stand und tiefsinnig schwieg.

„Wer war eigentlich dieser Mann?“ sprach Armen zu sich selbst, suchte und fand an der rechten Seite des Sockels auf einem großen Marmorschild, das eigens von einer Lampe angestrahlt wurde, die Lebensgeschichte dieses Mannes in großen vergoldeten Buchstaben.

Die Geschichte begann damit, dass dieser Mann wie alle anderen Menschen in seiner Kindheit ein gewöhnliches Kind gewesen war, der sich für bunte Blumen begeisterte, dem Zwitschern der Vögel lauschte, Insekten und Tiere mochte. Jedoch mit zwölf Jahren legt er eine einmalige Begabung an den Tag und verblüfft die anderen mit seiner außergewöhnlichen Kenntnis der Geschichte der Menschheit. Als ein schon reifer brillanter Kopf erkennt er zutiefst die Ungerechtigkeit der Weltordnung und, da er sieht, wie seine Mitmenschen unter der Tyrannenherrschaft leiden, beschließt er sein Leben der edlen Tat der Befreiung der Menschheit zu widmen. Dafür sucht er mehr als zehn treue Mitstreiter aus und stürzt in die Flammen des Kampfes, aber als er auf der Suche nach Mitteln für diese heilige Sache ist, wird er durch Verrat eines Mitstreiters beim Geldfälschen ertappt und eingekerkert. Selbst die grausamen Zustände im Gefängnis und die schrecklichen Folter vermögen nicht seinen beispiellosen Willen zu beugen. Er organisiert hier einen illegalen Stoßtrupp, flieht aus dem Gefängnis und schürt einen Aufstand gegen die feindlichen Herrscher und hält die gerechte Abrechnung mit allen seinen Gegnern. Bald wird er zum verehrten Führer der Armen und Notleidenden und sein Name genügt, um die Menschenmassen zum Kampf zu bringen. Sein Ruf verbreitet sich in der ganzen Welt als ein Symbol der gerechten Rache und der Erlösung und als Beweis der unbesiegbaren Kraft seines Volkes, die Geburt eines neuen, freien und gerechten Lebens verkündend. Von einem träumerischen Bauernjungen bis zu einem einmaligen Helden und einem von Gott erwählten Volksführer, das war der große weise Weg, den er gegangen war. Auf dem Schild ganz unten stand in einer Zeile, dass er mit dreiunddreißig Jahren einer heimtückischen Verschwörung zum Opfer gefallen sei, aber seine edle Tat unsterblich bliebe, wovon die heutige blühende Welt und dieses Denkmal zeugten.

„Was für ein dummer Mensch!...“ sprach Armen erstaunt, indem er sich aufrichtete. Die Augen taten ihm auf einmal Weh und er bedauerte, wegen des Lesens seine Augen so strapaziert zu haben. Er sah sich um: Es war schon so dunkel geworden, dass sich das Denkmal, die riesige Kuppel des Gebäudes, der makellose Pflaster des Platzes, die sorgfältig gepflegten Blumenbeete voneinander kaum  unterschieden; mit der Finsternis zusammenverschmolzen waren sie zu einem undeutlichen nächtlichen Schatten geworden, der wie ein allumfassender Schleier aus dem Himmel herabstieg und die Welt umhüllte.

Das veilchenblaue Mädchen kam nicht…  

 

VI

Er überquerte die große Straße und wollte auf dem Pfad zurückgehen, auf dem er gekommen war, aber der Wald war sehr dunkel, man konnte nichts erkennen und er nahm zwangsläufig den Pfad, der den Wald umging und zu der großen Straße parallel verlief. Ringsum war es friedlich und still, ruhig war auch Armen. Das Dunkel, die Bäume, der Pfad stimmten einen zu einem langsamen nüchternen Nachdenken ein. Er ging nachdenklich und schon das Nachdenken, die Tatsache, dass er so frei nachzudenken vermochte, bereitete ihm eine leise und demütige Freude. Es ist erstaunlich, dass der Mensch selbst die geringfügigsten Sachen nur durch erschöpfende Mühe erlangt. Was wäre aber, wenn alles, was geschieht, mit Leichtigkeit geschehen würde, ohne Schwere, nicht so langsam, sondern blitzschnell? Armen stellte sich einen Moment lang diese augenblickliche Welt vor und erschrak: In diesem Fall würde sich alles verwickeln, aus den Fugen geraten und zugrunde gehen. Und auch dieses unvollkommene Leben würde nicht existieren. Auch er würde nicht existieren. Nichts würde existieren. Alles würde stillstehen, zu Stein erstarren, zunichte werden. Nicht einmal zunichte werden, denn nichts würde existieren, um zunichte zu werden. Hm, alles geht also auf sich selbst zurück und nur deswegen existiert es auch und sich bewegt. Alles stimmt. Was geschieht, geschieht richtig. Der Mensch ist durch das Leben beschränkt, das heißt, ihm sind solche Grenzen gesetzt, die erst das Leben möglich machen. Also ist das Leben seinerseits durch den Menschen beschränkt...

„Beispielsweise durch mich...!“ sagte Armen laut und freute sich überschwänglich über diese Offenbarung. Einen Augenblick lang wurde er sich der Wichtigkeit seines Lebens für die ganze Menschheit und die ganze Welt bewusst und war derart gerührt, dass seine Augen im Dunkel feucht wurden. Er wischte sich die Augen und sah über den Bäumen und der Finsternis den Himmel, den großen, grenzenlosen, besternten Himmel. Aus der Gewohnheit, die er schon in der Kindheit hatte, starrte er eine Weile diese geheimnisvolle Grenzenlosigkeit unverwandt an, und die Stille der Sterne ergoss sich in ihn und rief ihn, indem sie seine Gedanken zärtlich in ihren Bann zog, zum Nichtsein. Und er wurde von einer Sehnsucht nach einer anderen Welt gepackt, diese Sehnsucht schien ihn aufzufordern, nicht zu sein, indem sie behauptete, das Nichtsein sei besser als das Sein, denn das Sein sei der Tod und das Nichtsein die Unsterblichkeit. Armen senkte den Blick und spürte mit Schrecken, dass er auf dem Boden war, auf dem Boden eines dunklen Etwas, wo er dazu verurteilt war, eine Strafe abzubüßen, ziellos zu wandern, sinnlos zu leiden und bis zum Grabe die Last der Erinnerung an etwas großes Unbekannte in sich zu tragen. Vielleicht ist alles bereits beschlossen, vielleicht ist dieses Leben, das so ewig zu sein scheint, nur ein langweilig lange dauernder Augenblick und schon längst aus der Erinnerung jenes Einen ausgelöscht, in dessen Leben jeder Augenblick Ewigkeiten dauert... Und Armen fühlte sich so machtlos und ungeschützt, dass er unsäglich verzweifelte und gesenkten Kopfes auf dem dunklen Pfad weiterging. Da fiel ihm plötzlich seine Kindheit ein, besonders ein Tag aus dieser Kindheit und besonders jener Moment dieses Tages, als das Kalb, das ihm zum Weiden anvertraut worden war, verloren ging, weil er eben nicht richtig aufgepasst hatte, und er im Dunkel weinend suchte und suchte, in dieser Schlucht, zwischen jenen Felsen, während das Kalb schon längst zu Hause war...

Vorne rauschten die Bäume heftig und eine große Masse hob sich von der Finsternis des Waldes ab, kurz danach erschien diese Masse auf der Straße, es war eine Kuh. Sie stieg ruhig den Hang hinauf und ging eine Weile nachdenklich sicheren Schrittes auf der Straße, wusste also, wohin sie ging. Hinter ihr erschien am Rand der Straße ein kleiner Mann, ein großes Bündel Holz auf den Schultern. Unter dieser Last tief gebeugt, folgte er der Kuh, von Zeit zu Zeit blieb er stehen, sah sich unter der Last um und ging weiter. An der Biegung angelangt, gingen die beiden, der Mensch und das Tier, über die Straße und kamen außer Sicht. Er hörte hinten Schritte und dann ein bitteres Schluchzen. Eine Frau in ärmellosem Kleid kam, immer wieder sich mit der Hand die Nase wischend, schnell im trüben Licht der Straße daher. Sie trat schief auf, hatte große und grobe Hände, das Gesicht war überaus runzelig, die Augen waren tränenschwer, die Haare unordentlich aufgelöst. Sie ging schnell vorbei, bemerkte nichts, sah nichts, wurde immer kleiner, wurde ein kleiner, winziger Punkt auf der großen Straße und schwand spurlos dahin, aber ihr bitteres Schluchzen echote noch lange in Armens Ohren...

Armen war sehr verärgert und eine dunkle Welle des Grimms erhob sich in ihm. Wie beleidigt begann er unverständlich vor sich hin zu murmeln und warf dem Leben vor, dass es sich nicht binden ließ, sondern immer in eine unbekannte Richtung floh.

„Zuerst ist es angeblich hell“ sagte er laut mit verächtlicher Verwunderung, „dann ist es angeblich dunkel... Tagsüber quält man sich ab und, wenn die Nacht kommt, geht man schlafen... So ein Unsinn...!“

Sein Kopf fieberte. Seine Gedanken drängten hinaus, gleich Insekten aneinander stoßend, um möglichst schnell das Licht der Welt zu erblicken, jedoch er fühlte, dass das, was er dachte, nicht das war, was er verstand: Seine Gedanken belogen ihn. In dem Augenblick, als die Gefühle zu Gedanken werden mussten, änderten sie sich auf unverständliche Weise und ergossen sich in völlig andere Worte, während die richtigen Inhalte flohen und sich in einer undurchdringlichen Finsternis versteckten. Er glaubte, mit den beiden Füßen tief im Schlamm zu stecken, aber in Gedanken ging er weiter...

Er bog nach links und trat auf eine holprige Straße. Er fühlte scharf, dass er auf dem Rückweg war. Leer, unverrichteter Dinge. Sieh, auch dieser Tag ist umsonst vergangen. Was ist aber daraus geworden? Ist er unwiederbringlich dahin? Oder ist er gegangen, um sich mit einer anderen - unbekannten, -  Anzahl zu vermengen? Und er stellte sich einen Ort vor, einen Ort wie der Meeresgrund, auf den alle jene Tage sinken, die die Menschheit verlebt hatte. Dort haben sich Milliarden von Menschenleben angehäuft. Aber warum? Für wen? Was nützt es? Nichts. Genauso wie es für diese Erde von keiner Bedeutung ist, wer auf ihrer Oberfläche geht oder überhaupt ob jemand darauf geht. Hm, warum ist das alles so? Ist es zum Leben da? Ist es ein Teil des Lebens? Und wenn das ganze Leben so sein sollte, wenn das Ganze des Lebens so sein sollte, was ändert das nur? Nichts. Davon, dass der Mensch lebt, ändert sich nichts. Selbst für ihn ändert sich nichts davon, dass er sein Leben lebt. Oder... nicht lebt. Genauso wie davon, dass er jetzt durch diese Straße geht, sich das Leben der Menschen, die in diesen so regelmäßig gebauten Häusern wohnen, nicht ändert. Oder umgekehrt...

„Umgekehrt!“ wiederholte Armen laut für sich selbst. „Gerade umgekehrt!...“

Er fühlte, dass diese Gedanken wie Trugbilder vor seiner Stimme verschwanden, und  nahm mit Schaudern wahr, dass in der Tiefe, in den tiefsten Schichten des Lebens und der Seele eine große Gleichgültigkeit herrschte, die diese bunte Welt der Menschen und Gegenstände schuf und, wie das Licht, zerstreut in allem schwieg, was war, ist und sein wird, und erstaunlich gleichmäßig verteilt war; sie nahm nicht zu, sie nahm nicht ab, sondern sie war nur da: unumstößlich, unabänderlich und ewig. Und das, was er in diesem Augenblick erlebte, war dasselbe, was er vor seiner Geburt erlebt hatte und nach seinem Tod erleben würde, und Armen hatte das Gefühl, wieder geboren zu sein: Er selbst ist die Licht-Gleichgültigkeit, aber plötzlich stieß er mit dem Fuß gegen etwas Festes und Dunkles. Er erwachte aus den Gedanken, spürte wieder die Erde unter seinen Füßen und war verwundert, dass er wieder auf dieser Welt war und noch gehen konnte...

Und es wurde auf einmal öde in seinem Innern. Er fühlte nichts, dachte nichts, es war öde. Irgendein Geruch stach ihm in die Nase, es war gleichsam der Geruch der Welt. Und dieser Geruch war überaus vertraut. Im selben Augenblick nahm er scharf den Geruch seines eigenen Körpers wahr, ein Schweißtropfen war aus dem Grübchen seines Nackens seinen Rücken hinab gerollt, und es kam ihm vor, als hätte sein Geruch die ganze Welt durchdrungen. Einen Augenblick lang sehnte er sich innig danach, sich selbst zu töten, zu veraschen, zu vernichten, um diesen Geruch loszuwerden, als er plötzlich diesen Geruch wiedererkannte: Es war der Geruch seiner Mutter, in den eingehüllt er, ein ganz kleines Kind, in den Armen seiner Mutter schlief, in ihrem alten Steinhaus, und mit grenzenloser Angst eines Kindes lauschte, wie der Wind draußen, über Klüften hängend, seine gewaltige Trommel gegen die steilen Gipfel der Berge schlug, und das Echo des dunklen Rauschens des Windes wurde immer stärker und pochte in seinen Schläfen und drang in seine Knochen, und er drückte sich immer enger an seine Mutter...

Plötzlich brach Armens Herz zusammen und die Sehnsucht, die grenzenlose Sehnsucht, strömte hinaus und überflutete die ganze Welt, und es überkam ihn ein unwiderstehliches Verlangen, sich auf die Erde zu werfen und sie zu küssen, unersättlich zu küssen...

„Danke“, murmelte er, „danke...“

Er wischte sich die Augen und fühlte, dass sein Dasein gerechtfertigt war.

 

© Levon Sargsyan

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