SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005
Erster Teil, Kapitel 2
I
Er kam in die Stadt von Osten, als schon pechdunkle Nacht war. Nach den in der Finsternis hier und da funkelnden Lichtern und der unregelmäßigen Anordnung der zwischen den Bäumen verlorenen kleinen und niedrigen Häusern zu urteilen, war es eine an den beiden Ufern eines mit üppigem dunklem Schilf bewachsenen Flachlandflusses breit angelegte Siedlung. Armen konnte kein Schild entdecken, um den Namen der Stadt zu erfahren. Dies konnte zwar keine große Bedeutung haben, aber das Wissen um den Namen – mit den Menschen ist es nicht anders – flößt einem ein gewisses Vertrauen ein. Im Hof eines am Rande allein gelegenen Hauses bemerkte er eine Bewegung, die von Leben zeugte, aber, als er sich näherte, um den Hausbesitzer danach zu fragen, wie die Stadt hieß und wo der Busbahnhof lag, sprang ihn die dunkle Gestalt des Wachhundes an, der unerwartet hinter den Latten des Zaunes auftauchte; Armen schreckte überrascht zurück und entfernte sich schleunigst, das wilde Gebell des Hundes und den flammenden Hass seiner Augen trug er mit sich. In der Ferne, im trüben Licht der einzigen Laterne der Straße konnte er eine Kuh erkennen, aber als er da war, hatte sie der Besitzer schon in den Stall hineingetrieben und das Tor des Hauses fest verschlossen. Armen, der nach der grenzenlosen und gleichgültigen Stille der Steppe in den Lärm des Lebens hineingeraten war, hatte ständig das Gefühl, in eine andere Welt hineingeraten zu sein, die ihn von rechts und links gleichsam angriff, und ihm schien sogar, dass das Dunkel hier dunkler war, auf ihn lauerte und ihm auf Schritt und Tritt ins Gesicht wehte. Und es packte ihn ein heftiges Gefühl der hoffnungslosen Einsamkeit und Verlassenheit, aber er war so müde, dass er gegenüber diesem Gefühl taub und gleichgültig blieb; das Einzige, was ihn noch beschäftigte, war, dass er möglichst schnell den Busbahnhof der Stadt finden sollte, um dort zu übernachten.
II
Im Busbahnhof herrschte ungewöhnlich reges Leben. Das Gedonner der Autos, die Rufe und die lärmenden Gespräche der Leute schienen nur dazu dazusein, den unwiderstehlichen Drang nach Schlaf zu vertreiben, der wie eine unsichtbare Wolke über dem Bahnhof hing, und der Platz, den die dunkle Mauer des fast schwarzen Waldes säumte, sah wie die runzelige Stirn eines fest schlafenden Riesen aus, auf der es von zahllosen und kunterbunten Leuten wie von Ameisen wimmelte. Als Armen den Fluss überquerte und aus dem Hain hinaustrat, sah er sich im Gedränge des Bahnhofs, er atmete erleichtert auf, nun fühlte er sich geborgen, und es war angenehm, ein Teilchen der anonymen Menge zu sein. Alle Bewegung im trüben Licht des Bahnhofs vollzog sich gleichsam in jemands Mitternachtstraum, und man könnte denken, dass alles sofort zerrinnen würde, wenn es diesem Jemand plötzlich einfallen würde, zu erwachen und, sagen wir, die Glieder zu recken und zu gähnen. Armen lächelte, als er merkte, dass sein Blick gerade auf einen solchen Mann gefallen war: Unter der Wand des Bahnhofsgebäudes saß nämlich ein alter Mann mit einem undefinierbaren Gesicht, der aufwachte, die Glieder reckte und gähnte, als Armen an ihm vorbeiging.
Die kleine Bahnhofshalle war voller Leute, einige von ihnen schliefen, ihre Sachen fest umschlungen, längs der Wände, andere saßen auf schäbigen und halbkaputten Bänken herum und unterhielten sich leise oder spielten Karten oder starrten vor sich hin in Erwartung ihrer Fahrt. Armen trat durch die Hintertür in den Hinterhof hinaus, und ein stechender Harngeruch schlug ihm entgegen, unter einer Wand mit abgebröckeltem Stuck verrichteten einige Männer gerade ihre Notdurft. Armen ging weiter, machte einen Kreis im Hof, ließ seine Augen über einige Frauen und Männer hinweg schweifen, die hinter einer riesigen Mülltonne in einem Kreis hockten und Bier tranken, dann ging er zurück, ohne einen bequemen Platz gefunden zu haben. Auf seiner Suche trat er wieder auf den Platz, ein Kind stieß ihm an den Bein, er fasste das Kind, das sich verlaufen hatte, am Händchen und wartete, bis die Mutter herbeistürzte, den Arm des Kindes ergriff und es im Weggehen mit Vorwürfen überschüttete. Armen schaute ihnen nach und als er sich umdrehte, merkte er, dass er gerade da stand, wo vorhin der gähnende Alte gesessen hatte, der schon weggegangen war und seinen Platz freigemacht hatte. Armen besetzte sofort den Platz, warf sich quer über seine Reisetasche und lehnte sich gegen die Wand des Bahnhofsgebäudes. Er schaute sich um: Rechts neben ihm schlief eine große Bäuerin, den Kopf auf die Brust gesenkt und wie eine riesige Henne ihre dicken Arme über ihre Säcke herrisch gebreitet; links schlummerte, eine dicke Mappe fest an die Brust gedrückt, ein hagerer Mann mit einem missmutigen haarigen Gesicht, er lehnte mit dem Kopf an die Wand und schnaubte gleichmäßig durch die Nase. Armen schloss die Augen, und sogleich hatte er ein sonderbares Gefühl: ihm schien, er selbst sei jener Alte mit dem undefinierbaren Gesicht, der schon weggegangen war, und plötzlich verlor alles jeglichen Sinn für ihn, er wusste nicht mehr, wer er war, wo er war, ob es ihn überhaupt gab oder nicht; alles löste sich in einem Dämmerzustand auf, und anstelle des Schlafes packte ihn eine unbestimmte und angespannte Besorgnis...
Aus diesem Zustand riss ihn die verschlafene Stimme einer Frau, die durch den Lautsprecher die Ankunft eines Busses von irgendwo bekannt gab. Der Bus war ausgebucht. Die Fahrgäste stürzten aus der Bahnhofshalle hinaus, drängten sich an der Bustür und versuchten mit verschiedenen Kniffen den Busfahrer zu erweichen, während dieser, ein Mann mit einem wuchtigen Körper und einem Bullenkopf, ohne jemanden anzusehen, ab und zu wiederholte, kein Platz sei frei... Sein Gesicht trug einen übernächtigten und erschöpften, jedoch unerschütterlichen Ausdruck der Macht, als würde er die Geschicke der Menschen, die Geschicke der Welt, die Geschicke des Weltalls nach eigenem Ermessen verwalten...
„Auch mein Geschick...“ brummte unwillkürlich Armen, als ihm unter den Fahrgästen plötzlich, wie es ihm schien, das Gesicht des Mannes auftauchte und verschwand, dem er einmal in irgendeinem Bahnhof auf die Beine geholfen hatte, weil er hoffnungslos betrunken gewesen war; er hatte seine Reisetasche fallen lassen und war dem Gestürzten zu Hilfe gerannt, was die Verwunderung der Fahrgäste einbrachte; der Gestürzte hatte eine Glatze, schmale wie mit einer Nadel durchstochene Augen und einen Ziegenbart und war von unbekannter Herkunft; aber als er zurückgegangen war, war der Mann wieder zu Boden gestürzt, mit dem Kopf gegen die Kante des Gehsteigs geschlagen, und da war das Gelächter der an der Kasse versammelten Frauen und das Schimpfen eines Mannes zu hören gewesen...
Der Bus setzte sich in Bewegung, in seinem Lärm und Rauch erstickten das missmutige Murren und Fluchen der enttäuschten Menschen; für einen Augenblick entstand eine Aufregung in der Menge, aber sie legte sich bald, und es war wieder Nacht, und es war schwer, in dieser Stille einen anderen Sinn als den stechenden Sumpfgestank zu spüren und einen anderen Ton als das widerliche Sirren der nahenden Mücken zu hören. Armen seufzte tief und schloss wieder die Augen, aber der Schlaf war unwiederbringlich weg, und es war nur die krampfhafte Müdigkeit geblieben. Er versuchte es, sich auf dem Betonboden etwas bequemer zu machen, als ihm einfiel, dass er hungrig war. Er holte die Esstüte heraus und begann Kuchenkugel sehr vorsichtig zu knabbern. Er aß, hin und wieder die Mücken verscheuchend, und lauschte unwillkürlich dem appetitlichen Geräusch der abbröckelnden Kuchen, das gleichsam aus fernen Tiefen des nächtlichen Himmels sein Ohr erreichte...
Nachdem er alle Kuchenstücke verschlungen und sich dabei in Gedanken bei der Alten am Straßenrand bedankt hatte, schüttelte Armen die Krumen von seinen Kleidern ab, und als er aufsah, spürte er scharf die Stille; er schaute sich um und staunte: Der Bahnhof war fast leer und ins Dunkel eingehüllt, es brannte nur die große Lampe an der Fassade, deren mattes Licht sich teilnahmslos über dem Platz wiegte. Es schien ihm, als wären die Leute durch einen Zauber verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Er drehte sich zu seinen Nachbarn: Weder die Frau noch der Mann waren da, er saß allein an der Wand und die ersehnten Plätze waren leer. Er dachte, dass er wahrscheinlich beim Essen plötzlich eingenickt war, und die Leute mittlerweile fortgegangen seien.
Armen stand auf und ging rings um den Bahnhof herum, außer einigen schmutzigen Menschen, die betrunken unter den Mauern schliefen, war niemand mehr da. Plötzlich bemerkte er in dem Teil, der an den Wald angrenzte, ein Lokal, das noch geöffnet war und durch ein schwaches und fahles Licht beleuchtet wurde; eine ältere Frau räumte die Teller auf und brachte Tische und Stühle in Ordnung, sie war im Begriff, das Lokal zu schließen. Armen besann sich, dass er Durst hatte, und er begab sich rasch zu dem Lokal, um vor der Schließung wenigstens ein Glas Wasser trinken zu können.
„Mütterchen, kann ich ein Glas Wasser bekommen?“, bat Armen atemlos die Frau, die sich hinter der Theke gebeugt am Geschirr zu schaffen machte.
Die Frau richtete sich auf, und Armen staunte: eine schöne junge Frau mit großen leuchtenden mandelförmigen Augen, einer feinen Nase und schwarzen Locken.
Armen wurde rot.
Die Frau gab keine Antwort, eine Weile betrachtete sie Armen, plötzlich lachte sie fröhlich auf, es war ein offenes einladendes Lachen.
Armen wurde noch verlegener.
Die Frau verschwand wortlos in das Innere des Lokals und tauchte mit einem Glas Wasser in der Hand wieder auf.
„Bist du Armenier?“ fragte die Frau lächelnd. „Suchst du Arbeit?“
Armen trank und nickte dabei.
„Und du heißt wohl... Armen... Na, alle Armenier heißen Armen...“, lachte sie.
Armen lächelte und gab ihr das Glas zurück.
„Und kein Platz zum Schlafen...“, fuhr die Frau heiter-mitleidig fort.
Armen fiel auf, dass sie mit ihren Fingern das leere Glas streichelte, und er besann sich, dass er immer noch nicht wusste, wohin er geraten war.
„Wie heißt eigentlich diese Siedlung?“ fragte Armen, aber ihm wurde auf der Stelle klar, dass seine Frage in Wirklichkeit der Frau galt und nicht der Stadt.
„Das ist keine Siedlung, sondern eine Stadt“, stellte die Frau klar, leicht gekränkt. „Eine offene, gastliche, angenehme Stadt... eine ewige Stadt...“
„Entschuldige!“ sagte Armen. „Wie heißt also die ewige Stadt...?“
Die Frau zeigte mit der Hand nach oben.
Armen trat einen Schritt zurück und las das Namenschild des Lokals.
„Kitak... ?“
„Sarah“, lächelte die Frau und reichte ihm die Hand nach einem kurzen Zögern.
Die Hand war feucht und klebrig und Armen fühlte einen Augenblick lang die unendliche Nacht und in dieser Nacht die alles verschlingende Finsternis, die sich einer riesigen schwarzen Blume gleich ringsum öffnete... Er zog seine Hand unwillkürlich zurück, und als er ihrem prüfenden Blick begegnete, spürte er, dass durch die Berührung ihrer Hände eine Art Geheimbund zwischen dieser Frau und ihm zustande kam, woraus eine süße Unruhe in seinem Innern entstand...
„Weißt du was, Armen...?“ sagte die Frau mit einer geschäftigen Vertrautheit, und sie fuhr nach einem demonstrativ nachdenklichen Schweigen mit einer neutraleren Stimme fort: „Ich habe einen guten Vorschlag... Möchtest du unter guten, häuslichen Bedingungen übernachten...?“
„Ich kann mir diesen Luxus nicht leisten“, erwiderte Armen. „Das Hotel übersteigt meine Kräfte...“
„Nein, du hast mich falsch verstanden“, lächelte die Frau. „Du kannst bei mir übernachten, auf dem Dachboden, auf weichem Gras, weicher als jedes Bett...“ Ihre Stimme bekam einen weichen, samtigen Ton, der die öde traumhafte Stille heraufbeschwor, die sich in der späten Nacht auf den Bahnhof gesenkt hatte. „Ich verlange kein Geld, aber dafür solltest du das Schloss meiner Haustür reparieren, ich weiß nicht, was da passiert ist, der Schlüssel dreht sich nicht mehr, ich kann also die Tür nicht zuschließen, wenn ich weggehe, mache ich sie einfach zu und Schluss...“
Armen zögerte. Die Perspektive, ruhig zu schlafen, Kräfte zu sammeln, war verführerisch, aber ein dunkles Gefühl hinderte ihn daran, zuzustimmen.
Und nun...“, sagte die Frau, ohne die Antwort abzuwarten, sichtlich begeistert und ging in die Tiefe des Lokals. Durch den Türspalt konnte er sehen, wie sie in die bereits volle Tüte auch noch eine dickbauchige Weinflasche hineinzwängte, kurz darauf erschien sie wieder, mit zwei großen Tüten bepackt, die mit allerlei Lebensmitteln voll waren.
„Morgen muss ich meinen Mischa, mein Engelchen besuchen...“, sagte die Frau etwas verlegen, sie mühte sich, die Tüten aufzuheben und auf die Theke zu stellen.
„Was hat er denn?“, fragte Armen, griff nach den Tüten, schaffte sie über die Theke und stellte sie auf den Boden. Dass das Kind der Frau krank war, benahm ihm endgültig allen Zweifel.
„Keine Ahnung... auch die Ärzte verstehen es nicht... Vielleicht ist’s die Leber...“, seufzte die Frau traurig, sie warf einen kurzen tiefen Blick auf Armen und lächelte kaum merklich. „Mein Haus ist nicht weit von hier... am anderen Flussufer...“
Sie machte das Licht aus und schloss das Lokal.
III
Auf den hohen Absätzen leicht wiegend schritt die Frau herrisch voran, und ihre breiten Hüften gingen langsam und gleichmäßig im trüben und schlaflosen Licht auf und nieder. Das leichte Zittern der dunklen Haare auf ihrem Rücken und das vage Beben der biegsamen Bögen des dünnen Rückens waren wie der ferne Widerhall einer verlorenen Erinnerung in der Nacht. Armen spürte, dass in seinem Innern die Begierde aufkam, ein unerwartetes Verlangen über ihn kam, und er bekam plötzlich Angst.
Wie ein Lasttier beladen folgte er dieser unbekannten Frau, als sei er ihr Sklave. Es gab an der ganzen Sache etwas Demütigendes, einen schlichten Betrug. Sie beide wussten, wohin und warum sie gingen und es war eine offensichtliche Unverschämtheit, zu schweigen. Armen schnaufte unzufrieden und schickte sich an, der Frau mitzuteilen, dass er keine Übernachtungsstätte brauchte; er sei es gewohnt und würde die Nacht irgendwo schon hier, am Bahnhof, unter einer Mauer oder auf einer Bank verbringen, aber er fühlte, dass dies eine feige Flucht und schmähliche Niederlage bedeuten würde. Das wusste die Frau wohl, die es nicht einmal für nötig hielt, zurückzuschauen. Es lag auf der Hand, dass sie sich ihres Reizes mehr als sicher war. Armen war niedergeschlagen...
Als sie dabei waren, den Bahnhofsplatz zu verlassen, bemerkte Armen ziemlich entfernt, unter einer halbverfallenen schmutzigen Wand eine ungewöhnliche Bewegung, und sein Unmut verschwand. Kurz danach sah er, dass es ein Krüppel war, der sich mit unmöglicher Qual aufzurichten versuchte, aber die Krücken rutschten jedes Mal seitwärts und er kippte wieder auf den Boden. In der Stille waren sein verzweifeltes ersticktes Geschimpfe und das dumpfe und vergebliche Geklapper der Krücken zu hören. Der Mann war wahrscheinlich betrunken oder... Beim letzten Mal, als er hinfiel, schlug er mit dem Kopf mit Wucht gegen die Wand und schrie kurz und heiser auf. Armen stellte die Tüten auf den Boden und eilte ihm zu Hilfe, aber ihm kam die Stimme Sarahs zuvor, die mit herrischer Kälte klang:
„Lass das, Armen, stör ihn nicht, er braucht deine Hilfe nicht!“
Armen drehte sich um. Sarah schaute ihn mit einem drohenden Lächeln und starren Blickes an und Armen fügte sich. Er hob gehorsam die Tüten wieder auf und folgte Sarah in dem Gefühl, dass er nicht im Stande war, ihrem verführerischen Reiz zu widerstehen. Sarah führte Armen in die Finsternis des Waldes. Am Anfang des Pfades tauchte vor ihnen wie ein Schatten eine Gestalt auf, die klar und feierlich Sarah grüßte und spöttisch auf Armen blickte, aber Sarah übersah sie schlechtweg, Armen aber beugte unwillkürlich den Kopf und ging vorbei.
Den Wald der Erde löste der Mond des Himmels ab, und der Fluss war gleichsam die matt schimmernde Grenze zwischen dem Wald und dem Mond. Armen kam es vor, als seien sie zwei ununterscheidbare Schatten, die still durch die kühle Nacht glitten. Der Weg schien nicht enden zu wollen. Als sie ein Bächlein überquerten, streifte Armen unwillkürlich die volle Brust Sarahs, er fühlte ihr liebliches Wogen und sein Herz zuckte. Er spürte, wie von da an zwischen ihm und Sarah gleichsam das Geheimnis dieser Berührung schwebte. Eine Weile später bog Sarah endlich ab und trat in einen kleinen Hof ein, der von einem schäbigen und verkrümmten Zaun umgeben war.
Das Haus sah hoffnungslos verlassen aus. Es war eher eine armselige Hütte, altersschief, deren grob gezimmerte Tür wie eine Ohrfeige am Gesicht des Hauses klebte; sie hatte ein winziges Fenster, das nach dem Hof ging, und ein hohes mit Heu bedecktes Dach, das jeden Augenblick einzustürzen drohte. Dieses Haus schien seit alters her so schief im Mondlicht zu stehen, und es würde auch so bleiben, bis in alle Ewigkeit...
Mit festen und herrischen Schritten ging Sarah zur Tür, und Armen verstand, dass sie trotz alledem die Herrin dieses Hauses war, für die hier alles lieb und vertraut war.
„Warte mal, ich komme gleich wieder...“ Kaum bei den Stufen angelangt, bog Sarah ins Innerste des Hofes, und Armen bemerkte unter dem Zaun des kleinen Gemüsegartens den großen Schatten irgendeines Tieres, plötzlich bewegte sich der Schatten, dann kam ein tiefer Seufzer, und Armen wusste sogleich, dass es eine Kuh war. Dadurch wurden das Haus, der Hof und der Zaun auf einmal vertraut und verständlich.
Armen setzte sich auf eine wacklige hölzerne Stufe und begann den Himmel zu betrachten. Hinter dem Staubschleier des Mondlichts konnte er das vertraute Sternbild des Krebses erkennen; plötzlich nickte er ein. Im Traum war er auf irgendeinem Stern und sein Dorf auf dem Gipfel eines grenzenlosen Berges; der Berg ist in Wirklichkeit ein riesiges unsichtbar brennendes Feuer, in dessen Flammen sein Vaterhaus steht – mit breiten und hellen Fenstern; er selbst ist heimgekehrt und will hineintreten, aber in der Tür begegnet er dem wunderschönen Mädchen, von dem er sein ganzes Leben lang geträumt hat; sie trägt durchsichtige weiße Kleider, die um ihren geschmeidigen Leib flattern; mit unendlicher Sehnsucht stürzt er auf sie zu, aber sie streckt die Arme aus und treibt ihn wortlos hinaus...
„Ich sagte, ich will mal sehen, ob Sabi die Kuh gemolken hat oder nicht, ich muss ja morgen Milch für Mischa mitnehmen...“ Sarahs Stimme klang scharf in Armens Ohr. „Sabi ist meine Halbschwester, sie wohnt mit Gamer, ihrem Mann, etwa sechs Straßen weiter; sie ist mir eine große Hilfe, ist sehr begabt, will eine berühmte Sängerin werden, hat eine herrliche Stimme, singt einfach wie keine andere, besonders wenn sie betrunken ist... Armen, willst du schlafen gehen?“
„Nein“, tat Armen unschuldig und lächelte im Dunkel. „Einfach so, ich überlegte...“.
„Überleg nicht, alles wird in Ordnung sein“, sagte Sarah im Hinaufgehen. „Jetzt kenne ich hier alle wichtigen Leute, wir werden schon einen Job für dich finden... Ich denke, du kannst was...“ fügte sie hinzu und stieß dabei die Tür auf. Armen glaubte in ihrem Ton eine kaum spürbare Nuance des heiter-listigen Spotts zu hören, der den Frauen eigen ist. „Ich werde Skorp sagen, dass er dir helfen soll; Skorp ist der Architekt von Kitak, ohne ihn geht nichts, er hat ein hohes Ansehen; meine Bitte wird er nicht abschlagen...“ versicherte Sarah mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Komm ins Gästezimmer, fühl dich wie zu Haus...“
Sarah machte das Licht an. Armen blieb überrascht stehen: Der Flur des Hauses war so eng, dass nur eine Person hinein zu passen schien; auf der schmutzigen niedrigen Decke und in den Ecken hoben sich Spinnweben schwarz ab, der alte verfaulte Fußboden wies stellenweise dunkle Löcher auf. Drinnen herrschte ein feuchter Knoblauchgeruch, in dem sich der herbe und süßliche Duft eines Frauenparfums ausmachen ließ.
„Ist das hier das kaputte Schloss?“ fragte Armen verwirrt und drehte sich rasch zur Tür, als wolle er die Flucht ergreifen.
Am Türriegel hing ein schweres klotziges Eisenschloss, in dessen Mitte ein genauso klotziger Schlüssel steckte. Das Schloss war derart verrostet und alt, als wäre es nie gebraucht worden.
„Hast du Öl?“ fragte Armen, während er das Schloss betrachtete. „Komm, lass sehen...“
„Lass das, später...“, sagte Sarah sanft und freundlich. „Ich hol was zum Essen, dann können wir’s versuchen... Ich muss was essen, sonst falle ich gleich um.“ Sie nahm die Tüten, ging ins Gästezimmer und verschwand hinter einem Vorhang. „Stell dir mal vor, ich habe den ganzen Tag keine Zeit gehabt, etwas zu essen...“, erklärte sie mit Verspätung hinter dem Vorhang.
Armen trat an die Gegenseite des Tisches und ließ sich auf einem grob gezimmerten Stuhl nieder, der keine Rückenlehne hatte. Das Gästezimmer, das gleichzeitig wohl auch als Ess- und Schlafzimmer diente, war klein und länglich und hatte geweißte Wände, es war durch einen blutroten Vorhang geteilt, der bis auf den Fußboden reichte. Drüben stand ein schlichtes Holzbett, es war nicht gemacht, eine Decke mit einem Blumenmuster war darüber gebreitet. An einer Wand stand eine klotzige hohe Couch, mit einem verblichenen filzähnlichen Stoff bedeckt, daneben war eine breite und niedrige Kommode, auf der eine alte Uhr aus Blech emsig tickte, es war Punkt zwölf Uhr nachts. An der Wand über der Couch, fast in der Mitte, hing ein umrahmtes Foto, das einen älteren Mann mit einem langen und dichten Bart und einer unbestimmten Blickrichtung darstellte; vielleicht war’s Sarahs Vater, obwohl er ihr nicht ähnlich sah...
Mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt und gähnend schüttelte Armen den Kopf, und plötzlich überkam ihn eine so tiefe Wehmut, dass sein Herz vor Schmerz zuckte. Ihm kam alles unsinnig und unwirklich vor: er war angeblich ein Mann, Sarah war angeblich eine Frau, die Hütte war angeblich ein Haus, das Licht war angeblich eine Beleuchtung, der Tisch war angeblich ein Möbelstück... All das schien eine Illusion, ein nächtliches Traumbild zu sein, das in Wirklichkeit nicht existierte... Armen lächelte schief und spürte einen Lichtschein auf seinem Gesicht. Er blickte hinüber, drüben stand etwas schräg ein Spiegel ohne Rahmen, in dem sich ein Kindergesicht widerspiegelte. Armen wunderte sich, den Spiegel vorhin nicht bemerkt zu haben, nun als er den Kopf drehte, entdeckte er auf der linken Ecke des Tisches ein kleines Foto, aus dem das traurige und – so kam ihm vor – von Totenblässe gezeichnete Gesicht eines zehn-zwölfjährigen Knaben blickte; wahrscheinlich war das Mischa, Sarahs kranker Sohn, der in der Tat feine und vage Gesichtszüge eines Engels und einen ungewöhnlich nachdenklichen Blick hatte. Einen Augenblick lang stellte sich Armen in seinem Innern lebendig vor, wie der Junge allein im Bett in der finsteren Stille des Krankenhauses liegt, und es kam ihm vor, der Junge sei schon tot und er selbst sei gerade deshalb da, um an seinem Leichenmahl teilzunehmen...
„Entschuldige, es hat etwas gedauert“, hörte er die muntere und unschuldig klingende Stimme Sarahs.
Mit einer Karaffe Wein unter dem Arm und Speisen in den Händen kam sie durch den Spalt des Vorhangs und ging wiegenden Schrittes auf den Tisch zu. Sarah hatte es geschafft, sich umzuziehen, sie trug jetzt ein weites und leichtes kurzes Hauskleid, unter dem sich die Vorzüge ihres Frauenkörpers undeutlich-deutlich abzeichneten. Als sie die Karaffe auf den Tisch stellte, beugte sie sich vor, und Armens Blick fiel unwillkürlich auf ihre Brüste, die hinter dem Kleid ganz nackt waren und so nah, dass Armen glaubte, ihr sanftes Zittern und ihren schwindelerregenden Duft zu spüren. Und Armen geriet für einen Augenblick in jene tiefe und verschlossene Stille, die ihn umhüllte, wenn er in der mit Schatten gefüllten Schlucht, die sich unter seinem Dorf öffnete, die dahinschmelzenden und brechenden Linien der über den Abgrund hängenden heißen und brüchigen Felsen erspähte. Er machte eine unruhige Bewegung, deren Sinn Sarah, so kam ihm vor, begriff und schlau schmunzelte... Und plötzlich durchfuhr eine genaue Vorahnung des Verrats sein Herz, er hatte das Gefühl, jemanden zu verraten, der ihm zwar unbekannt, aber unendlich lieb und nah war. Er senkte den Kopf und empfand eine namenlose Abscheu gegen sich selbst, dann runzelte er schmerzvoll das Gesicht und senkte den Kopf noch tiefer, so dass seine Stirn fast den Rand des Tisches berührte.
„Wenn du schlafen willst, geh aufs Dach, umarme das Heu und schlaf“, sagte Sarah mit missmutigem Spott, indem sie sich aufs Bett setzte. „Willst du uns nicht Wein einschenken, du junger Mann...?“
Armen kam zu sich und geriet in Verlegenheit, als er Sarahs tückischem und prüfendem Blick begegnete. Als er die Gläser füllte, rollte ein Tropfen auf die Tischdecke und wurde wie Blut vom weißen Tuch sofort eingesaugt. Da musste Armen unwillkürlich an den Zwischenfall im kleinen Walddorf denken...
„Greif zu, ich weiß, du hast Hunger“, sagte Sarah mit unverhoffter Zärtlichkeit und begann, ohne seine Antwort abzuwarten, schnell und geschickt zu essen.
Armen nahm ein Stück Käse und Brot und begann langsam zu kauen, indem er Sarahs Bewegungen betrachtete, in denen sich eine fieberhafte Eile bemerkbar machte.
Während sie aßen, erzählte Armen Sarah über das im Wald verlorene kleine Dorf, den ermordeten Sohn des Gemeindevorstehers, die Alte am Straßenrand und deren kugelförmige Kuchen. Er umging dabei behutsam, was ihm passiert war, und sagte nichts darüber. Sarah hörte ihm gesenkten Kopfes zu und blickte kein einziges Mal auf.
„Hm, interessant...“, sagte Sarah gleichgültig, indem sie sich den Mund abwischte, und Armen glaubte zu sehen, wie durch ihr Gesicht ein Schatten huschte. „Lass uns auf unsere Begegnung trinken!“ Sie nahm das Glas und streckte ihm ihren Leib entgegen, und von dieser Bewegung rutschte ihr Kleid hoch und legte ihre üppigen Schenkel bloß.
Der Wein war dick und herb, der Ehrgeiz zwang ihn auszutrinken, und als er das Glas auf den Tisch stellte, überkam ihm so eine taubtiefe Müdigkeit, dass sein Blick trüb wurde. Wie im Nebel sah er Sarah und er lächelte: Diese Frau gehört ihm, sie sitzt für ihn da, sie ist sein...
„Armen, hast du viele Bücher gelesen?“, fragte Sarah plötzlich, indem sie die Ellenbogen auf den Tisch stützte, ihre Stimme klang überraschend traurig und sorgenvoll.
„Warum...?“ wich Armen erstaunt aus, und seine Müdigkeit verschwand im Nu.
„Nun weißt du, ich denke, dass Mischas Krankheit... wie soll ich das sagen... dass sie keine körperliche, sondern eine geistige ist... Mein mütterlicher Instinkt sagt mir das... Weißt du, Mischa war auch schon als Kind immer wortkarg, er mochte weder spielen noch malen noch lesen, nichts interessierte ihn, er setzte sich immer auf die zweite Stufe unserer Haustreppe - warum auf die zweite, weiß ich nicht – er setzte sich auf die Stufe und starrte Löcher in die Luft. Was er dabei dachte, wusste niemand, und er sagte das niemandem. Ich dachte, so ist nun sein Charakter, er ist halt ein Kind, er ist nun so geboren, was kann ich denn tun? Mir gegenüber war er gleichgültig, beinahe feindlich gestimmt, ließ mich ihn nicht in die Arme nehmen, kosen, stieß mich immer wieder zurück, als wäre ich nicht seine Mutter, sondern eine fremde Frau. Der Einzige, den Mischa liebte, war dieser Flegel...“ Sarah zeigte hasserfüllt auf das Foto des bärtigen Mannes an der Wand. „Diesen Halunken!“
„Wer ist das?“ staunte Armen.
„Mischas Vater, mein Ex-Mann“, sagte Sarah finster und bedrückt.
„Ich dachte aber, offen gesagt...“
„Er hat mir das Leben vergiftet, mich vernichtet, dieser gemeine Gauner!“ schluchzte Sarah.
„Und wo ist er jetzt?“ fragte Armen.
„Im Knast.“
„Warum?“
„Hier in einem Nachbardorf wurde eine neue Schule gebaut, er war aber der Hirt des Dorfes; nun hatte er sich bei dem Gemeindevorsteher mit Geschenken so eingeschmeichelt, dass der ihm half, Schulbauleiter zu werden. Stell dir mal vor, ohne jede Bildung!... Nun wurde er hochmutig, dachte, dass alle Menschen nur dazu geboren seien, um ihm zu dienen; mich prügelte und demütigte er ständig, als würde er an mir Rache nehmen; mir schien, er konnte mir nicht verzeihen, dass ich seine Frau war, zu ihm gehörte... Bei uns gab’s immer Streit und Prügelei. Die ganze Stadt lief mir nach, für diesen Schurken aber war ich nichts; seine Geliebten wechselte er wie Taschentücher; er ging so weit, auch ganz junge Mädchen zu bedrängen... Einmal kommt die Tochter des Wächters jener Schule im Auftrag der Mutter auf den Bauplatz und fragt diesen Schuft nach ihrem Vater; dieser schaut sich um, niemand weit und breit, und sagt: ‚Komm, Kleine, ich bring dich zu deinem Vater.’ Er bringt sie in den Keller der Schule und vergewaltigt dort das arme Mädchen...“ Sarah hielt inne, änderte ihre Pose und fuhr fort: „Kurz, die Sache sprach sich herum, die Tat wurde bewiesen, dieses Vieh bekam lebenslänglich... Nun soll er dort verrecken...!“
Sarahs Stimme überschlug sich vor würgendem Zorn. Mit zitternden Händen versuchte sie automatisch ihr Kleid zurechtzurücken, um die Schenkel zu bedecken, aber es rutschte noch höher. Armen kam es vor, als habe sich Sarah zweigeteilt: Die da erzählte, war nicht die, der dieser prachtvolle Körper gehörte...
„Mein Leben ging kaputt“, sprach Sarah weiter. „Aber am schlimmsten traf es meinen Engel, meinen Mischa, er sollte erst sechs werden, seinen Geburtstag konnten wir nicht mehr feiern, tagelang weinte er, verlangte nach dem Vater. So war ich gezwungen, ihm alles, die ganze Wahrheit, zu erzählen. Er hörte ganz aufmerksam, wie ein Erwachsener, zu. Als ich fertig war, blieb er stumm, dann starrte er auf einen Punkt, hob den Zeigefinger hoch und sagte: ‚Macht nichts, sagt ihm, er solle kommen, ich habe ihm verziehen...’ Mir lief es kalt über den Rücken: In jenem Augenblick sah er seinem Vater so ähnlich, der Blick, die Stimme, die Gesten... Ich trat hinter den Vorhang und weinte heimlich. Plötzlich teilte sich der Vorhang, und er sagte durch den Spalt hindurch: ‚Warum weinst du, Weib, ich will nur meinen Vater...’ Es verschlug mir die Sprache... Er ging zurück, setzte sich aufrecht wie der Vater auf die Couch und sagte kein Wort mehr. Er sprach erst wieder, als er eingeschult werden sollte. Er sagte: ‚Ich brauch’s nicht, ich will nicht...“ und Schluss. Was ich ihm auch sagte, er gab keinen Mucks von sich. Der Schuldirektor kam persönlich, um ihn zu überreden, aber vergebens. Ich nahm ihn zum Arzt, man untersuchte ihn von Kopf bis Fuß, es hieß, er sei gesund, ihm fehle nichts. Man attestierte ihm Geistesschwäche, und so blieb er zu Hause...“
Sarah hielt inne und richtete ihren Blick, die Lippen zusammengepresst, irgendwie flehentlich auf das Foto des Sohnes. Dann errötete ihr Gesicht wegen irgendeines geheimen Gedankens. Sie warf den Kopf mit einer leichten Bewegung zurück und ihre schwarzen Löckchen sammelten sich auf dem mit feinen Haaren bedeckten mondweißen Nacken.
„Na, verstehst du...“ fuhr Sarah etwas zögernd fort. „Ich bin ja eine junge Frau, hübsch; hätte ich etwa immer allein leben müssen? Zumal ich mich ganz gedemütigt und verlassen fühlte. Nachts weinte ich heimlich, tagsüber suchte ich nach Arbeit, so wie du jetzt. Natürlich hatte ich viele Bewerber, aber nach zwei-drei Begegnungen war immer klar, was sie an mir mochten. Ich wies alle ab, bis ich sechs Monate später Kaba traf. Er ist nicht von hier, kommt aus Süden, deswegen wird er „der Schwarze“ genannt. Er hat sich einen großen Namen in Kitak gemacht und ist ein sehr starker Mann, wie ein vom Himmel gefallener Steinblock. Die Hälfte aller Lokale am Bahnhof gehört ihm. Als er mich sah, spürte ich, dass er sich sofort verliebte, aber nicht falsch, es war eine echte Liebe. Er gab mir einen Job im Lokal, damit ich arbeiten und mich durchschlagen konnte. Ich habe ja nicht studiert, und es ist sehr schwer, eine Arbeit zu finden. Kaba ist zwar verheiratet und hat Kinder, aber ich stehe seiner Familie nicht im Weg, mir reicht schon mein Kummer...“ Sarah presste die Lippen zusammen und strich sich die Haare aus der Stirn. „Ich habe Mischa das Problem erklärt, so gut ich konnte, er hörte mir mit unbewegter Miene zu und sagte nichts. Ich weinte bitter. Er ließ mich allein, ging ins Treppenhaus und setzte sich auf die zweite Stufe, auf seinen Platz. Später, als ich zur Arbeit ging, musste ich an ihm vorbei; er saß in derselben Pose und starrte ins Leere. Gebrochenen Herzens ging ich zu der Zauntür, plötzlich hörte ich seine Stimme hinter mir: „Lass den Onkel kommen!“ Ich war überrascht, er hatte also für sich gedacht, dass Kaba sein Onkel war. Ich drehte mich um, um ihm in die Arme zu fliegen, aber er stand auf, ohne auf mich anzublicken, und ging hinein. Ich weinte vor Glück... Am Abend kam ich mit Kaba zurück, um ihn mit Mischa bekannt zu machen. Ich sah, dass Mischa das Foto des Vaters an die Wand gehängt und sich feierlich darunter auf die Couch gesetzt hatte. Als er uns sah, stand er auf, ging, ohne ein Wort zu sagen, an Kaba vorbei, schob den Vorhang beiseite und verschwand dahinter. Kurz danach ging ich zu ihm, er saß auf dem Bett und starrte ins Leere...“
„Sonderbar“, unterbrach sie Armen mit einem beiläufigen Ton in der Stimme, um seinen Verdruss über Kabas Erscheinung zu verbergen. „Mischa tut also gar nichts?“
„Er schreibt“, sagte Sarah geheimnisvoll mit gesenkter Stimme.
„Was schreibt er?“, fragte Armen überrascht.
„Ich weiß nicht...“, zögerte Sarah, während sie die Augen abwandte. „Genauer gesagt, er schreibt nicht, da er nicht schreiben kann, sondern er zeichnet... Ich zeig’s dir gleich...“
Sarah stand auf und ging schnell auf den Vorhang zu. Armen stieß einen tiefen Seufzer aus…
„Da!“, hörte er Sarahs Stimme.
Sie kam zurück, in der Hand ein dickes Bündel von Papieren, das wie ein altes zerfleddertes Buch ohne Einband aussah.
Armen legte das Bündel auf den Tisch und begann darin zu blättern. Auch Sarah, die hinter ihm stand, hatte sich über das Bündel gebeugt und folgte mit einem ungeduldigen Blick Armens Bewegungen, als erwartete sie von ihm eine Antwort auf die Frage, die sie quälte. Sarah berührte mit ihrer linken Brust mit einer unbefangenen Vertrautheit Armens Schulter. Obwohl Sarahs Nähe – er konnte ihren Atem spüren – Armen angenehm war, war er von diesem Bündel von Papieren ganz hingerissen. Er nahm daraus ein Blatt nach dem anderen, und sein Staunen wurde immer größer. Auf allen Blättern ohne Ausnahme war dasselbe gezeichnet, auch die Größe und die Anordnung waren dieselben, als wäre das eine die genaue Kopie des anderen. Es handelte sich um einen erstaunlich geschickt und meisterhaft mit der Hand gezeichneten tadellos runden Kreis, der sich genau in der Mitte des Papiers befand, um den Kreis herum waren verschiedene kleine Striche angeordnet, die auf den ersten Blick wie Schriftzeichen einer unbekannten Sprache aussahen, jedoch konnte Armen bei genauem Hinsehen feststellen, dass es einfach sinnlos gezogene Striche waren, die sich aber mit einer verblüffenden Genauigkeit auf jedem Blatt wiederholten; der Kreis aber war leer und makellos rein...
Eine Weile blieb Armens Blick auf das Bündel geheftet, dann, als er zu sich kam, schaute er auf Sarah, die ihn flehentlich anstarrte.
„Tut mir Leid, aber ich kann nichts sagen...“, sagte Armen langsam. „Mischa ist einfach schrecklich fixiert...“ Sein Blick fiel auf Mischas trauriges Gesicht im Spiegel, und ihn überfiel ein überaus befremdliches Gefühl, ihn durchfuhr der Gedanke, dass diese Zeichnung, die sich ständig wiederholte, möglicherweise den Tod symbolisierte: Mischa hatte den eigenen Tod gezeichnet...
„Wann hat er zuletzt gemalt?“ wandte sich Armen an Sarah, die Stirn runzelnd.
„Ich glaube, am Tag, an dem er ins Krankenhaus eingeliefert wurde“, antwortete Sarah. „Ja... an jenem... Tag...“ Sie ging um den Tisch, setzte sich wieder aufs Bett und plötzlich sah sie verlegen aus.
„Und warum habt ihr ihn ins Krankenhaus gebracht?“
Sarah wurde blass, dann legte sie sich schräg aufs Bett und lehnte den Kopf gegen die Wand. Ihre Schenkel lagen fast völlig bloß, so dass sogar ein Stückchen von der roten Unterwäsche zum Vorschein kam. Sie richtete ihren Blick auf Armen und erstarrte. Er fühlte, dass sie wusste, dass er die verbotenen Teile ihres Körpers sah, aber sie schien sich deswegen nicht zu schämen, vielmehr schien sie es heimlich zu genießen.
„Schenkst du mir ein?“, sagte Sarah mit einem kecken und freien Nachdruck und dies klang wie ein Befehl.
Armen füllte das Glas und reichte es ihr wortlos. Sarah nahm das Glas, ohne ihre Pose zu ändern. Zuerst führte sie das Glas behutsam an die Lippen, dann leerte sie es mit einer nervösen Entschlossenheit in einem Zug. Ein großer Weintropfen entschlüpfte ihrer Lippe und blieb an einem Mundwinkel hängen. Sarah versuchte, den Tropfen mit der Zunge aufzufangen, aber es gelang ihr nicht: der Wein zitterte kurz, rollte dann auf ihr Kinn und tropfte auf ihre Brust. Sarah leckte sich sinnlich die Lippen, und in ihrem Blick erschien eine abgrundtiefe Verzweiflung...
„In jener Nacht...“, begann Sarah zu erzählen, die Augen auf das leere Weinglas geheftet, mit dem sie in der Hand spielte. „Kurz, ich die Dumme hatte vergessen, das Licht auszumachen... Mein Blick fiel plötzlich auf den Vorhang, wie im Traum sah ich Mischa unter dem Vorhang stehen, er schaute auf uns... Ach, ich werde diesen Blick in meinem Leben nie vergessen!“, schluchzte Sarah, indem sie sich mit dem langen roten Nagel des Ringfingers ihrer freien Hand vorsichtig die Augen wischte. „Er stand wie versteinert da und schaute verblüfft auf uns; es war das erste Mal, dass seine Augen ein Gefühl ausdrückten... Mischa schien mir in diesem Moment – wie soll ich das sagen – auf einmal verwandelt, er schien ein gewöhnliches Kind geworden zu sein, wie alle Menschen, aber weit gefehlt!“ Sarah wischte sich wieder die Augen. „Ich sprang auf, warf mir das Nachthemd über und ging auf Mischa zu, er regte sich nicht. Ich umarmte ihn, bat ihn ins Bett zu gehen, er schob meine Hand zurück und sagte: ‚Bringt mich ins Krankenhaus!’ Ich versuchte, von ihm etwas zu erfahren, aber er war wieder stumm, gab keinen Laut von sich. Plötzlich packte mich die Angst, dass ich Mischa verloren hatte. ‚Kaba’, schrie ich, ‚steh auf, lass uns Mischa ins Krankenhaus bringen!’ Ich sah, dass Kaba, in das Betttuch gehüllt, noch nackt, wartend auf dem Bett saß, und plötzlich war ich von Hass gegen diesen Menschen ergriffen: Mir schien, er sei an allem schuld… Kurz, wir brachten Mischa ins Krankenhaus; der Arzt, der Nachtdienst hatte, untersuchte ihn und sagte: ‚Er ist völlig gesund.’ Ich glaubte ihm nicht. Ich bat Kaba, er ging und holte mitten in der Nacht den besten Arzt von Kitak aus dem Bett. Dieser kam, untersuchte Mischa und sagte dasselbe. Dann ging er, beriet sich mit jemandem, kam zurück, sagte: ‚Lasst ihn da, wir wollen ihn gründlich untersuchen.’ Mischa wurde im Krankenhaus untergebracht, unter den besten Bedingungen, wir aber, Kaba und ich, mussten zurück, weil man mir untersagte, im Krankenhaus zu bleiben. Sein Zustand hat sich seither nicht verändert, ich möchte natürlich Mischa wieder nach Hause nehmen, aber ich habe Angst; im Krankenhaus ist es sicherer...“ Sarah schwieg, sie schlug die Augen nieder und begann mit gerundeten Lippen leise in das leere Weinglas zu pusten.
„Malt er denn im Krankenhaus nicht?“
„Nein, von dem Tag an hat er nicht mehr gemalt“, sagte Sarah, ohne Armen anzusehen.
„Hat er auch nicht gesprochen?“
„Nein, die ganze Zeit hat er keinen Mucks von sich gegeben, außer gestern.“ Sarah runzelte die Stirn wie vor einem inneren Schmerz. „Gestern, als ich aus dem Krankenzimmer ging, flüsterte er leise: ‚Ich werde bald sterben, und niemand wird’s wissen, nur mein Vater...’ Das gab mir einen Stich ins Herz, aber ich kehrte nicht um, ich tat so, als hätte ich’s nicht gehört. Ich fühlte, dass ich nicht mehr im Stande bin, all das auszuhalten...“
„Hm...“
„Ich wollte einen klugen Menschen finden, der mir helfen könnte, und als ich dich im Bahnhof sah, dachte ich, dass gerade du der Mann seiest, den ich suchte“, lächelte Sarah traurig und sah Armen an.
„Ich...?“ Armen war angenehm überrascht. „Woran hast du erkannt, dass ich der bin, den du brauchst?“
„Als ich deine schönen klugen Augen sah, war’s mir sofort klar“, sagte Sarah zärtlich und offensichtlich zweideutig. „Schenkst du mir noch etwas ein?“
Armen lächelte geschmeichelt. Er füllte Sarahs Glas mit ausgesprochener Bereitschaft.
„Ich dachte, der Moment ist günstig; Kaba ist nicht da, ist zur Erholung gefahren, er fährt jedes Jahr um diese Zeit in die Heimat, um sich dort zu erholen, nächstens wird er zurück sein...“
Armen wurde verlegen, er wusste nicht, ob ihm Sarah mit ihrem Frauendoppelsinn etwas zu verstehen gab oder sagte, was sie auch meinte. Er begann automatisch wieder im Bündel von Papieren zu blättern und es leuchtete ihm plötzlich ein, dass Mischa sterben würde und seine rätselhafte Krankheit gerade der Tod war. Mischa ist an der Krankheit zum Tode erkrankt, vielleicht ist er selbst der Tod, der in ihm wohnt und ganz zufällig in seiner Gestalt in diese Welt gekommen ist; wahrscheinlich weiß Mischa nichts darüber, deswegen hängt er so sehr in einer unbedingten Liebe allein an seinem Vater, obgleich das Menschenleben für ihn in Wirklichkeit keinen Sinn hat...
Armen schaute auf Mischas Foto und er glaubte, in Mischas starrem Blick die Bestätigung seiner Gedanken zu sehen. Ja, das ist der Tod, der Blick des Todes, und alles scheint sich in diesem Blick abzuspielen, auch dass er selbst ihn jetzt so anstarren muss...
Armen ließ den Kopf hängen und blieb still. Er fühlte klar, dass dieser Blick wie ein unsichtbarer Schatten in ihn eindrang und dort blieb. Einen Augenblick lang drängte es ihn danach, all das Sarah zu erzählen, aber sie tat ihm Leid, und er sagte nichts. Sarah hatte sich inzwischen im Bett aufgerichtet und wiegte sich mit geschlossenen Augen wie betrunken. Da sie Armens Blick fühlte, öffnete sie die Augen, trank den Rest des Weines aus und stellte das Glas mit Mühe auf den Tisch.
„Sarah“, sagte Armen mitleidsvoll, „ist dir nicht wohl?“
Sarah schaute zerstreut auf Armen, als kenne sie ihn nicht, dann schloss sie wieder die Augen und begann sich im Sitzen zu wiegen. Dann murmelte sie etwas vor sich hin und fing an, völlig unerwartet zu singen, wobei sie die Töne dehnte und ab und an seufzte.
„Ich sitze am Fluss und grüble:
Ich habe kein Heim in der Welt.
Mein Heim ist der Norden,
Mein Heim ist der Süden,
Mein Heim ist der Osten,
Mein Heim ist der Westen;
Die ganze Welt ist mein Heim,
Ich habe kein Heim,
Ach, ich habe keins...“
„Du singst gut“, lobte Armen, den die traurige Weise des Liedes gerührt hatte.
Sarah lachte laut auf, dann warf sie einen heiteren und mutwilligen Blick auf Armen.
„Das ist mein Lieblingslied“, sprach Sarah ermuntert. „Manchmal rufe ich meine Schwester Sabi zu mir, nur damit sie es für mich singt...“ Sie strich ihr Kleid auf der Brust zurecht und verschränkte die Hände auf dem Bauch. „Sie singt unvergleichlich, nicht wie ich... Wir setzen uns so einander gegenüber, trinken zusammen, sie singt, ich höre zu... Was meinst du, sollte ich nicht Sabi rufen? Wir würden uns zu dritt gut amüsieren...“ Sarah richtete ihre großen träumerischen Augen erwartungsvoll auf Armen.
„Nein, Sarah, es ist sehr spät...“, wich Armen aus. „Ich glaube, das muss nicht sein, dein Gesang wird mich schon völlig befriedigen...“ lächelte er und errötete sogleich, denn seine Worte klangen unerwartet zweideutig.
„Armen!“ sagte Sarah plötzlich nach Frauenart entschlossen, und, indem sie ihren schlangenartigen Leib reckte, legte sie ihre Hand auf seine und schloss die Augen. „Armen...“ flüsterte sie atemlos.
Von Sarahs Berührung schoss Armen das Blut in den Kopf und er war wie betäubt. Er fand keine Antwort. Er spürte nur, dass sein Herz unruhig pochte...
„Armen, du gehörst zu mir...“ fuhr Sarah mit geschlossenen Augen gleichsam heimlich fort, und sie streckte die Hand aus und begann wie eine Blinde Armens Gesicht, Kopf, Hals zu betasten. „Ich habe mein Leben lang von dir geträumt...“
Armen verlor beinahe den Kopf, wich unwillkürlich zurück, aber Sarahs Hand verfolgte ihn hartnäckig, als suchte sie, woran sie sich anklammern könnte. Armen ging um den Tisch und nahm Sarah in die Arme, er spürte, wie ihr feiner Körper in seinen Armen zitterte. Sarah umfing mit ganzer Kraft Armens Rücken, in ihren Augen stand ein mit Flehen gepaarter Schrecken. Wahrscheinlich wusste auch Sarah zu gut, dass Mischa sterben würde...
„Armen...“ flüsterte Sarah gedehnt, „bin ich denn so schlecht, dass du mich nicht liebst..? Ich schwöre dir, du wirst mit mir glücklich sein, wir werden von hier fliehen, werden Kinder bekommen und zusammen glücklich leben... weit, sehr weit von hier...“ Sie richtete einen trüben Blick auf Armen, und auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein seliges und glückliches Lächeln ab...
Armen setzte sie aufs Bett, aber er hatte sich selbst noch nicht gesetzt, als ihn Sarah leidenschaftlich auf Gesicht und Brust zu küssen begann. Dann ließ sie ihn plötzlich, begann fieberhaft ihr Kleid aufzuknöpfen und warf sich splitternackt aufs Bett. Armen hielt überrascht inne, als er so nah sah, was so fern und unerreichbar schien. Er roch den berauschenden Duft des Körpers der Frau und beugte sich zu Sarah, aber er fühlte, dass er ihre Liebe nicht zu erwidern vermochte: Zwischen ihm und Sarah stand wie ein unsichtbarer Schatten der Tod...
Plötzlich war Armen von einem derart erschütternden Mitleid ergriffen, dass er sich erschöpft aufs Bett setzte, zu Sarahs Füßen. Bemitleidenswert war er, bemitleidenswert war Sarah, bemitleidenswert war die Liebe, das Leben, der Tod, alles...
Armen nahm sein Gesicht zwischen die Hände und drückte es zusammen.
„Ach, komm schon!“ flüsterte Sarah mit geschlossenen Augen ungeduldig.
Armen sah die üppige Brust Sarahs sanft schwellen, steigen, gleichsam unbemerkt die Sterne erreichen und wieder sinken, als rolle sie in den Abgrund hinab, und so immer wieder, endlos, ewig...
„Armen?“ Sarah saß plötzlich wie von einer Schlange gebissen auf und kauerte sich auf dem Bett. „Du willst mich nicht lieben…? Du denkst, dass ich schlecht bin, da ich, Mutter eines kranken Sohnes im Krankenhaus, es mit einem fremden Mann treibe...?“ Sie wurde immer hitziger, ihre Augen schauten mit einem stechenden Hass auf Armen. „Du verstehst nichts, nichts…! Und ich dachte, du wärest anders… Armen, ich fürchte den Tod…“ Sie vergrub erschrocken ihr Gesicht in den Händen. „Rette mich, Armen, ich fürchte mich sehr vor dem Tod…“ sie warf sich wieder gegen Armen, umfasste ihn fest und schluchzte jämmerlich...
„Nein, Sarah, ich denke nicht so...“ erwiderte Armen erstaunt, dass man für all das so einfache Worte finden konnte. „Ich... ich...“ Er umarmte Sarah, er merkte, wie sie einem erschrockenen Vogel gleich in seinen Armen zitterte. Sarahs Zittern übertrug sich auf Armen, plötzlich wühlte ein stürmisches Verlangen Armens Inneres auf. Es war, als hätte ein aufwallender Strudel alle Mauern und Hindernisse hinweggefegt und Armen ganz in seinen gewaltigen Wirbel hineingezogen. Er begann atemlos Sarah zu küssen und ihre Tränen zu trinken. Sarah stieß einen tiefen Seufzer aus und ging in seiner heißen Umarmung auf. Armen war nicht mehr da, Sarah war nicht mehr da, es gab nur den allumfassenden Atem von etwas, was sehr fern war, dieser Atem wurde immer unstillbarer, bis er lautlos barst und in einer friedvollen Seligkeit nach und nach verlosch...
IV
Irgendwann erreichte das eintönige Geräusch eines dumpfen Geklappers Armens Ohr, es kam von draußen. Armen stutzte, aber das Geräusch hörte abrupt auf, und es herrschte wieder Stille. Es war wohl die Kuh, die mit dem Hals den Zaun des Gemüsegartens gestreift hatte, dadurch auch das Geklapper ihrer Kette. Er schaute auf Sarah: Sie schlief friedlich, ein feines, kaum merkliches Lächeln im Gesicht. Armen drehte sich auf den Rücken. Mit einem tiefen Seufzer legte er die Hände unter den Kopf. Er war innerlich ganz leer, es gab kein Gefühl, keine Gedanken und keine Sorgen, und das war das Peinlichste. Das Leben war eine unendliche Menge flüchtiger Augenblicke, die nur eine unvergängliche Leere hinterließen, so wie der von einer Beerdigung zurückkehrende Trauerzug. Das war es also, wovor er die ganze Zeit Angst hatte. Vor der Leere. Er dachte an die vergangene Nacht, an dieses fiebrige Durcheinander von Liebe, Angst, Leidenschaft und Tod. Es war gleichsam die Speise eines riesigen und unsichtbaren Wesens, das sie verzehrte und doch nie satt wurde. Sobald es sich satt gegessen hat, wird alles überflüssig und löst sich sofort in Nichts auf. Nein, er will nicht jemandes Speise sein. Er muss fort...
Er stand geräuschlos auf und blieb stehen. Der mit Speisen und Getränken beladene Tisch schwieg geduldig im Schein der späten Nacht. Auf der Kommode tickte die alte Uhr mit pflichtbewusster Emsigkeit. Sein Blick glitt über Mischas Gesicht, das mit unveränderter Wehmut aus dem Foto herüberschaute, aber all das schien schon fern zu sein und ihn nicht zu betreffen. Sarah rührte sich im Bett und nahm eine Pose ein, als schämte sie sich ihrer Nacktheit. Armen deckte sie bis zur Brust zu. Sarah lächelte im Schlaf, wachte aber nicht auf. Sie, diese Frau, ist ihm ebenfalls unbekannt und fremd, wie dieses baufällige Haus, die Geschichte dieses zwölfjährigen kranken Jungen, die scharfe, nach Knoblauch schmeckende Luft. Als sei er aus Versehen in ein fremdes Leben eingedrungen, wie ein blinder Nachtfalter, der sich durch das offene Fenster ins Haus verflogen hat... Plötzlich hatte Armen das schneidende Gefühl eines auf frischer Tat Ertappten. Als hätte er ein Verbrechen verübt, ein schweres Verbrechen. “Reingefallen...“ murmelte er. Sofort fiel ihm ein, wohin er geraten war und warum, und er fühlte, dass bereits eine bestimmte lebendige Verbindung zwischen ihm und dieser zufälligen Stadt entstanden war. Was geschehen war, war eine Art Anfang, das unumgängliche Ritual der Einweihung...
Von draußen, unter dem Fenster hervor, kam plötzlich ein lautes Geräusch, dann hörte er von der Treppe her Klopfen, als krieche jemand die Stufen hinauf. Armen stutzte, kurz danach öffnete sich die Tür mit einem Krach, und ins Haus drang ein fremder heftiger Atem ein. Armen hatte einen Moment das Gefühl, das sei das riesige und unsichtbare Wesen, das alles auffraß, aber schon im nächsten Augenblick platzte in der Luft ein heiseres unflätiges Fluchen, und er hörte etwas zu Boden krachen.
„Er ist zurück!“ sagte Sarah, die vom Bett aufgesprungen war, sie fuhr hastig in die Kleider und begann sie fieberhaft zuzuknöpfen.
„Wer?“
„Mein Vater“, sagte Sarah wütend. „Dieser Schurke, dieses Scheusal, dieser Schuft!“ Ihr schönes Gesicht verzerrte sich augenblicklich und verwandelte sich in das grausame Gesicht eines uralten bösen Weibes. „Du sollst ruhig bleiben, misch dich nicht ein!“ Sarah drückte einen kurzen Kuss auf die Wange des verwirrten Armen, wovon er plötzlich ein Schuldgefühl bekam: Ihm fiel ein, dass er es war, der die Zauntür offen gelassen hatte...
„Du... Nutte!...“ Den Vorhang vor der Tür beiseite werfend stürmte ein auf beiden Füßen hinkender alter Mann mit einem geschwollenen und pockigen Gesicht und einem zerzausten Bart herein, seine großen und glänzenden Augen in den mit Blut gefüllten Augenhöhlen rollend, starrte er einen Augenblick lang in das Innere des Zimmers, und Armen erkannte ihn sofort: Es war der Krüppel, den er am Bahnhof unter der halbverfallenen Wand gesehen hatte. „Du Nutte, du hast es schon mit der ganzen Stadt getrieben, jetzt vögelst du mit einem Fremden?“ brüllte der Mann Sarah heiser an. „Jenen unschuldigen Mann hast du in den Knast getrieben, jenen kranken Jungen, meinen Enkel, wirst du bald unter die Erde bringen, damit niemand dich stört und du es treibst, wie’s dir gefällt!“ Wütend schnaufend stützte er sich auf die linke Krücke, mit der freien Rechten versuchte er mit der Krücke auf Sarah einzuschlagen, aber der Schlag traf den Türrahmen, und er brach, von seinem eigenen Schwung zurückgeschleudert, wie eine baufällige Wand zusammen und schlug mit dem Kopf gegen die Zimmertür, der Vorhang riss und fiel auf ihn...
„Ich bin eine Nutte?“ schrie Sarah. „Du Schwein, was willst du von mir, sag, was?... Du hast mir das Leben vergiftet, du Schuft!“ Sie stürzte plötzlich auf den Mann und begann, ihn wütend mit den Füßen zu treten, dabei schrie sie außer Atem und vom eigenen Zorn immer mehr aufbrausend. „Hab ich dir nicht gesagt, du darfst nie mein Haus betreten... mir unter die Augen treten...? Du bist für mich gestorben... existierst für mich nicht!...“
Armen sprang zwischen sie und den zu Boden Gestürzten und versuchte Sarah zurückzuhalten, aber Sarah stieß ihn mit voller Wucht zurück. Armen sah ihr vor Zorn geschwollenes Gesicht und staunte über die Ähnlichkeit dieser zwei wütenden Gesichter. Sarah kam nicht zur Ruhe, wie im Fieber stieß sie Armen, um eine günstige Gelegenheit zu ergreifen und dem Vater weitere Schläge zu versetzen. Armens Anwesenheit schien ihr Kraft zu geben, darum hatte sie sich restlos ihrer Wut hingegeben. Armen suchte, woran er sich halten könne, er schaute auf seine Füße, um den Krüppel nicht zu treten, das benutzte Sarah, um wieder über ihren Vater herzufallen.
„Ich mach’ dich gleich fertig, du Scheusal!...“ Es gelang ihr, mit dem nackten Fuß den auf dem Boden Liegenden in die Seite zu treten. „Du hast mich ja gezwungen, jenen Schafe hütenden Wüstling zu heiraten, oder?... Sag, gib Antwort! Du warst es ja, der meine selige Mutter ins Jenseits schickte und seinen jüngsten Sohn, seinen Erben, ermorden ließ, du wolltest ja kein Bisschen von deinem Vermögen, das du von anderen geklaut hast, deinem Sohn geben!... Du Schurke, hast du vergessen, wie du ihn vor der ganze