SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005

Vierter Teil, Kapitel 1

I 

In der Nacht war das Wetter unmerklich umgeschlagen. Armen wachte von dumpfen Schmerzen im Rücken auf. Von der Steppe her wehte ein kalter Wind und im trüben und düsteren Licht der Morgendämmerung ähnelte das Häuschen einem dicken Schatten, der sich immer mehr mit dem vom Wind hergewehten Staub bedeckte. Armen drehte sich stöhnend auf die andere Seite und schloss die Augen wieder, aber sprang sofort wieder auf und setzte sich. Heute sollte er den Vorschuss bekommen, wie ihm Skorp versprochen hatte, und von dem Gedanken, dass auch das zunichte werden könnte, geriet er in Panik. Er machte sich schnell zurecht und stürzte hinaus.

Der Himmel war zu und düster, die Wolken stritten sich gleichsam rasend miteinander, sie gingen – kamen – schlossen sich zusammen –trennten sich wieder – entfernten sich – näherten sich, aber von Eintracht konnte keine Rede sein. Auf der staubigen Straße trieb eine einsame alte Frau ihre drei Zicklein durch die kalte Dämmerung zur Steppe. Der Horizont war so tief, dass man denken könnte, dass die Alte zusammen mit ihren Zicklein in den Himmel stieg, um sich mit den Sturmwolken dort zu vereinigen. Die Straßen sahen traurig und verlassen aus, der Wind lief von Haus zu Haus, als wollte er eine namenlose Todesbotschaft mitteilen, jedoch konnten die im stickigen Halbdunkel schlafenden Menschen nichts verstehen und wälzten sich nur in ihren lauwarmen Betten unruhig im traumlosen Schlaf...

Auf der Großen Kreuzung herrschte unerwartet reger Verkehr, die Straßen waren von allen vier Seiten gesperrt und eine riesige Menge von gleich uniformierten Leuten brachte, in zwei Gruppen geteilt und emsig wie Ameisen, die Straßen, die das Obere Kitak mit dem Niederen Kitak verbanden, in Ordnung, es wurde gefegt, repariert, besprengt, zurechtgerückt. Das zeugte von einer außergewöhnlichen Veränderung, die sich in der Nacht vollzogen hatte, und in der Luft hing der unbekannte Atem von etwas, was ungemein groß war. Eine hoch gewachsene Gestalt in einem makellos weißen Hemd und mit einer prächtigen roten Krawatte stand an der Säule des großen Schildes des neuen Gesetzes und überwachte aufmerksam die allgemeine Arbeit, von Zeit zu Zeit schrie sie, den Zeigefinger nach oben gereckt, gegen alle vier Seiten. Die Krawatte mit der rechten Hand festhaltend, damit sie der Wind nicht wegfegte, erteilte er zornig Befehle nach rechts und links.

An der Schranke kniete auf dem Boden ein kleiner älterer Mann, er war fieberhaft schnell damit beschäftigt, den Kehricht am Rand des Gehsteigs aufzusammeln und in einen großen Sack zu tun, aber der Wind verstreute den Kehricht immer wieder und der Mann war gezwungen, mit allem von neuem zu beginnen. Es schien, der Sack würde sich wohl nie füllen. „So viel Mühe für einen Sack Müll...!“ dachte Armen unwillkürlich.

„Ist was passiert?“ fragte er, indem er die Hand auf die eiserne Schranke legte, die leblos kalt war.

„Ich weiß nicht“, lächelte der kleine Mann schief von unten, achselzuckend. „Man sagt, Kitak kriegt einen neuen Bürgermeister...“ Seine Stimme ging im Wind unter.

Armen umging die Große Kreuzung und begab sich auf Umwegen nach dem Oberen Kitak. Die panikartige Unruhe wurde immer größer. Als er endlich angekommen war, war er bereits so müde und erschöpft, dass es ihm nicht mehr bewusst war, wohin er ging und weshalb.

 

 

II 

Der Sitz des Skorp schwieg im grauen Morgenlicht. Der Bau machte denselben Eindruck wie der strenge und finstere Gesichtsausdruck Skorps, mit dem dieser vor drei Tagen Armen empfangen hatte. Das Tor stand halb geöffnet und das machte ihm Hoffnung. Drinnen war keine Spur vom Wind, aber der Hof war verdächtig leer. Armens Klopfen blieb ohne Antwort. Er sah durchs Fenster hinein, konnte aber nichts unterscheiden. Er stieß vorsichtig die Tür des Wartezimmers und sie gab unerwartet nach. Auch da war niemand. Stellas Schreibtisch und Stuhl schienen im Halbdunkel der Ecke verlassen nachzudenken, die drei Rahmen an der Wand, die die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft darstellten, waren voneinander kaum zu unterscheiden und das Schild mit Skorps Namen sah so ärmlich aus, dass es leer schien. All das hatte etwas Unwirkliches, als wenn alles sich seines Sinns entledigt hätte und dahingeschwunden wäre, nur ein hohles Schattenbild hinterlassend. Armen wollte umkehren, als ihm neben der Tür der Rumpelkammer die schon vertraute Gestalt der alten Putzfrau auffiel; sie saß auf dem Fußboden, lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und ließ den Kopf auf die Knie sinken.

„Mütterchen?“ wunderte sich Armen. „Guten Morgen!“

Die Alte gab keine Antwort.

„Niemand da? Ist noch niemand gekommen?“ 

Die Alte wandte den Kopf zur Seite, aber blieb wieder still.

„Ist was passiert?“ fragte Armen, indem er vor ihr niederhockte. „Ist dir nicht wohl?“ Er streckte die Hand unwillkürlich zu der Alten.

„Weg!“ Die Alte stieß seine Hand zurück und schnaubte böse. „So ist es eben, ihr denkt an mich, erst wenn ihr was braucht“, murmelte sie verweint, indem sie tief beleidigt zu Armen aufsah.

„Was ist passiert?“, fragte er erstaunt.

„Was soll denn passiert sein?“ fragte sie spöttisch zurück. Hast du schon vergessen, dass ich dir einen Job verschafft habe? Ich, alter kranker Mensch, lief dir nach, schrie, rief, suchte und fand dich und du bekamst, was du wolltest, aber ich habe nur schlechten Dank geerntet.“

„Ich habe versprochen, dir zu helfen“, entgegnete Armen schuldbewusst. „Aber, verstehst du, bis jetzt habe ich kein...“

„Was nützt mir dein leeres Wort?!“ schnitt ihm die Alte trocken das Wort ab.

„Gleich kommt Skorp...“

„Niemand kommt!“

„Wieso?“ fragte Armen verwirrt.

„Heute gibt es eine große Beerdigung, alle sind dort. Woher soll ich wissen, ob sie danach hierher kommen oder nicht?!“ Die Alte zuckte die Achseln.

„Dann morgen.“

„Morgen!...“ wiederholte sie gedehnt. „Dieses dein ‚Morgen’ wurde schon vor tausend Jahren gesät, die Saat ist aber noch nicht aufgegangen. Wer weiß, ob ich nicht schon heute tot umfalle, was hab ich dann von deiner Hilfe...?“

„Das ist hier alles, was ich habe“, erwiderte Armen und zeigte ihr sein ganzes Kleingeld. „Nimm!...“

„Behalt es für dich! Du kannst dir dafür ein Glas Wein kaufen und damit meiner gedenken...“ Die Alte stieß seine Hand verächtlich zurück und begann bitterlich zu weinen...

Armens Blick blieb eine Weile an der Alten haften, dann schüttete er seine Münzen ihr wortlos in den Schoß und ging hinaus. Als er zum Tor bog, erreichte ihn die herzzerreißende Stimme der Alten; mit verworrenen Worten verfluchte sie ihren toten Sohn dafür, dass er sie allein gelassen hatte und selber ruhig unter der Erde lag...

Armen setzte sich auf den Rand des Gehsteigs und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm eines blattreichen Baums. Der Baum schützte ihn mit seiner breiten Krone vor dem Wind. Armen verfolgte abwesenden Blickes die Bewegungen der Straße, hörte Stimmen, nahm aber nichts wahr, er hatte sich ganz in gespannte Erwartung verwandelt. Er hatte ständig das Gefühl, Skorp würde jeden Augenblick kommen und die Dinge würden ihren natürlichen Lauf wieder nehmen. Selbst wenn er Skorp heute nicht sehen sollte, vielleicht trifft er ihn morgen?... Dieser Gedanke beunruhigte ihn, das schien nämlich mehr als unwahrscheinlich, er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass er auch am nächsten Tag hierher kommen würde. Nein, alles muss sich heute entscheiden...

Sein Kopf war schwer und er konnte an nichts denken. Armen schloss die Augen und schlief plötzlich ein. Im Schlaf war es warm und still, wie es nur zu Hause sein kann. Irgendwann stach ein scharfes Getöse ihm ins Ohr und er sprang unwillkürlich auf. Vor dem Tor stand Skorps schwarz glänzender Wagen, aus dem die lange, einem Jagdhund ähnliche Gestalt des Fahrers ausstieg, mit schnellen Schritten trat er durch das Tor in den Hof ein. Armen ging zum Wagen, aber es war niemand darin. Armen fiel sein eigener undeutlicher Schatten auf und er schloss von dessen kurzbeiniger Form darauf, dass Mittag schon vorüber war. Der Wind hatte aufgehört, in der Luft lag eine stickige Hitze, der Himmel war mit dem dicken und reglosen Filz grauer Wolken bedeckt. Im Tor stand er auf einmal Skorps Fahrer gegenüber, der, einen großen Kranz in den Händen, zurückkam.

„Wann kommt Skorp?“ fragte Armen, zurückweichend.

Der Fahrer überhörte die Frage, ging eilig zum Wagen und begann mit geschickten Bewegungen den Kranz vorne am Wagen anzubringen. Er rückte konzentriert die breiten schwarzen Bänder zurecht, die sich von dem Schwarz des Wagens kaum abhoben.

 „Wann kommt er?“ wiederholte Armen ungeduldig. „Ich habe mit Skorp etwas Wichtiges zu erledigen, er hat mich selbst zu sich bestellt...“

Der Fahrer drehte sich um und sah prüfend Armen an, als beschnüffelte er ihn.

„Komm gegen Abend vorbei!“ sagte er trocken, indem er am Steuer Platz nahm. „So gegen sechs...“ Er schlug die Wagentür zu und der Wagen fuhr heulend los.

Armen ging zum Baum, um seine Reisetasche zu holen, aber nach einigen Schritten blieb er stehen: War es etwa der Mann, der betrunken ein Kind überfahren hatte...?

Unter dem Baum war es leer. Da fiel ihm ein, dass er die Reisetasche im Häuschen gelassen hatte. Er wird Kitak verlassen...

 

 

III

Auf der Großen Kreuzung konnte kein Apfel zu Boden fallen: Alle Gehsteige, alle Balkone der Häuser waren von einer bunten Menge besetzt, sogar auf den Zweigen der Bäume saßen Kinder und Halbstarke. Alle starrten in ungeduldiger Erwartung das blaue Schild des neuen Gesetzes an, das mit einer herrischen Teilnahmslosigkeit über den Köpfen zu schweben schien. Besonders auffallend waren die zahlreich vertretenen Polizisten; in Gruppen und einzeln liefen sie in der Menge hin und her, näherten sich, unterhielten sich miteinander, riefen einander etwas zu, gingen wieder auseinander, zerstreuten sich, erteilten Rügen, verloren sich in der Menge, tauchten wieder nebeneinander auf und sahen sich um. Armen mischte sich unter die Leute, reckte den Hals, konnte jedoch nichts unterscheiden: Vorne am Rand des Gehsteigs erhob sich die unerschütterliche Mauer der wuchtigen Rücken der Polizisten, die eine dichte Kette gebildet hatten.

   „Was ist hier los?“ fragte Armen einen mittelgroßen Mann, der mit den Augen nach jemandem in der Menge suchte. In dem allgemeinen Lärm und Gedränge hörte ihn der Mann nicht. Armen wollte die Frage wiederholen, als der Mann, einer Frau ansichtig geworden, ihr erfreut mit der Hand winkte und sich durch die Menge zur Straße hinüber durcharbeitete. Armen benutzte die Gelegenheit und folgte dem Mann, bald war er an dem Pfahl einer Laterne angelangt, von hier aus konnte man die ganze Kreuzung überschauen. Die Menge war sehr viel größer, als er gedacht hatte.

Entlang den Straßen standen an beiden Seiten, im Abstand von fünf Schritten, schöne, durch Samtseile aneinander gekettete Säulen, an den Seilen hingen dunkelrote Rosen, die gesenkten Hauptes wie in Erwartung erstarrt waren. In der Mitte breitete sich der neue saubere Pflaster, keine Spur von Staub und Dreck. Drüben, wo das Niedere Kitak begann, waren hinfällige Häuser, dicht aneinander gebaut, durch eine schöne, hohe und große Mauer der Sicht enthoben, und der schlichte Zeitungskiosk war ganz verschwunden. Das große erhöhte Rondell, in dessen Mitte das blaue Schild des neuen Gesetzes ragte, hatte sich in ein wunderschönes Blumenbeet verwandelt, das mit seiner Farbenpracht eine richtige Augenweide war. Die Kreuzung war in einer Nacht unerkennbar geworden...

„Ist heute ein Feiertag?“ wandte sich Armen an die bebrillte langnasige Frau, die hinter ihm stand, aber seine Stimme ging in der Welle eines allgemeinen Seufzers unter, die durch die Menge ging und auf der Stelle erlosch. Alles verstummte und in der Stille setzte eine herzzerreißende Musik ein, die vom Wald her kam. Armen erkannte die Weise sofort wieder, es war Sarahs bekanntes Lied „Ich habe kein Heim in der Welt“, unter dessen Klängen aus der Tiefe des Laubs der Bäume, wo das bunte Schild der „Oberen Lichtung“ ragte, ein langer Trauerzug herausschwamm und sich auf die Kreuzung bewegte. Zwei Jünglinge mit unbewegten Gesichtern, von Kopf bis Fuß gleich schwarz gekleidet, trugen, feierlich schreitend, ein mit Blumen geschmücktes großes Foto, das im Licht des Nachmittags so glänzte, dass der Rahmen des Fotos leer zu sein schien. Armen wechselte seine Stellung und strengte die Augen an, aber er konnte nur ein unbestimmtes Gesicht unterscheiden, das eher an ein Gespenst erinnerte. Kurz danach kam einer der beiden Jünglinge etwas weiter nach vorn, das Bild geriet in den Schatten und Armen erstarrte auf der Stelle: Es war Mischa, Sarahs kranker Sohn, mit feinen unwirklichen Engelszügen, der mit einem konzentrierten Blick unbestimmt vor sich hinsah. Armens Herz wurde beklommen, das Gesicht schmerzhaft verziehend, presste er die Lippen fest zusammen; es war ihm, als sei er schuld am Tod dieses Kindes…

In der Menge wurde hier und da dumpfes Schluchzen von Frauen hörbar. Armen drehte sich unwillkürlich um: Eine alte Frau, von Kopf bis Fuß in Fetzen und Dreck, weinte besonders herzzerreißend; sie war wohl eine Obdachlose, die herumstrolchte, vielleicht eine von denen, die Armen am Müllberg von Kitak gesehen hatte. Sie weinte und rieb sich wie ein kleines Mädchen immer wieder die Augen mit schmutzigen Händen.

„Weg von hier!“ hörte er eine heisere Bassstimme neben sich, und eine riesige behaarte Pfote fasste die Alte grob an der Schulter. „Hab ich dir nicht gesagt, du alte Hexe, dass du hier nichts zu suchen hast?!“

Es war ein wuchtiger Polizist, der die Alte aus der Menge hinausdrängte.

„Was, ist schon auch das Schauen verboten?“ schnaubte Armen und packte unwillkürlich den Arm des Polizisten, um ihn von der Alten abzuhalten, aber dieser übersah Armens Eingriff und würdigte ihn nicht einmal eines Blicks. Armen war überrascht: War diese ganze Feier nur für Mischa...?

Der Trauerzug näherte sich. Nun erschien der Leichenwagen, prachtvoll glänzend, auf der Karosserie stand Mischas Sarg, ganz unter Blumen vergraben. Man sah nur seine kleinen Nasenlöcher eines Kindes, die sich in der Luft wie zwei schwarze Punkte wiegten. Armen trat von einem Fuß auf den anderen und sah plötzlich Sarah, sie hatte sich bei einer großen schwarzhaarigen Frau eingehakt, die ähnliche Gesichtszüge hatte; es war wohl Sarahs Schwester Sabi, die Sängerin, ihr Gesicht war tränenüberströmt und sie putzte immer wieder mit einem Taschentuch ihre schöne sinnliche Nase, es war, als genierte sie sich wegen ihres hohen Wuchses und hätte deshalb ihren Kopf zu tief auf die Brust gesenkt. Sarah selbst trug schwarze Samtkleider und sah in ihrer Trauer überaus eindrucksvoll aus; der Gram unterstrich ihren weiblichen unwiderstehlichen Charme, sie ging mit der ihr so eigenen Geradheit einfach mit einem versteinerten Gesicht hinter dem Leichenwagen und wiegte dabei auf ihren hohen Schuhabsätzen. Links ging, sie an der Hand haltend, ein hoch gewachsener Mann mit einem dichten schwarzen Bart und einem schmächtigen gequälten Gesicht, den Blick hatte er auf den Boden geheftet; er sah Mischa sehr ähnlich aus, als sei er sogar Mischa selbst, nur in einem fortgeschrittenen Alter; es war Mischas Vater, man hatte  ihn also aus dem Gefängnis entlassen. Neben ihm schoben zwei Männer in Schwarz den Rollstuhl, auf dem Sarahs behinderter Vater saß; er sah sauber und gepflegt aus und war unkenntlich geworden. Ihm folgten drei wachsame Polizisten, der in der Mitte warf immer wieder prüfende Blicke um sich und Armen tat unwillkürlich einen Schritt zurück: Es war Tscharkin, der in der neuen Uniform ungemein feierlich aussah, sein Gesicht hatte einen selbstzufriedenen hochmütigen Ausdruck, der die langgezogenen dunklen Gesichtszüge noch strenger erscheinen ließ. Er wurde rechts von Gamer, Sabis Mann, und links von Sili, dem jungen Polizisten, begleitet, der seinerzeit Mirasch, den wandernden Geschichtslehrer, von der Treppe hinuntergeschmissen hatte. Ski, der Chef der Polizisten, und Barin waren nicht da. Gleich hinter den Polizisten und gleichsam so getarnt schritt allein eine mittelgroße breitschultrige Gestalt, deren teure Kleider und erhabener Gang verrieten, dass sie die wichtigste Person im Trauerzug war; der Mann stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Zuges und alle, vorn und hinten, warfen von Zeit zu Zeit ehrfurchtsvoll schüchterne Blicke in seine Richtung. Er hatte schwarze Haare, unter dicken Brauen sahen tückisch glänzende Augen, die Lippen waren dunkel und schmal und herrisch zusammengepresst. Er sah Sarah verblüffend ähnlich aus, nur war er älter und hatte ein breiteres Gesicht. An seiner Seite rechts, einen halben Schritt hinter ihm, ging Skorp mit einem durchdringend aufmerksamen Blick und ruhigen sicheren Schritten; links schritt allein ein Unbekannter mit einem grimmig finsteren Gesicht, den runden Kahlkopf auf dem dünnen Hals ab und an zuckend. Da waren auch Stella und Issi, der mit frauenhaft zierlichen Schritten dicht neben einem wuchtigen stierähnlichen Mann ging. Dann kam eine bescheidenere Menge, in der auf einmal Fusi und Kler Seite an Seite für einen Augenblick auftauchten, und am Ende des Trauerzuges liefen, einander störend, die Kinder verstreut und mit den vor Neugier brennenden Gesichtern…

„Sieh mal, sieh! Kitaks neuer Bürgermeister!“ ließ sich eine Frauenstimme von der anderen Seite des Pfahls der Laterne vernehmen. „Wie ansehnlich!“

„Wo? Welcher?“ fragte eine andere Frau ungeduldig.

„Der da allein hinter den Polizisten geht.“

„Stimmt, sieht schon sehr würdevoll aus.“

„Ja, er hat sein Amt verdient. Seht, er hat in einer Nacht diesen Saustall ins Paradies verwandelt, wo man nur hinsieht, ist es blitzblank.“

„Ein echtes Wunder!“

„Aber der arme Mann ist sehr unglücklich, zuerst hat er sein Kind begraben und jetzt ist es der Sohn seiner Schwester.“

„Echt?“

„Ja, man sagt, vor etwa dreiundzwanzig Tagen hat ein gemeiner Fremder sein Kind nachts entführt und heimlich umgebracht.“

„Ach diese Fremden!... Hat man den Mörder gefasst?“

„Noch nicht.“

„So ist das, ein Unglück zieht ein neues nach“, seufzte die zweite. „Und welche ist die Mutter dieses Kindes?“

„Die schöne Frau da, mit schwarzen Locken.“

„Ja, sehr schön.“

„Ja, schön, aber ich denke, sie dürfte in Trauer keine hohen Absätze tragen, dazu noch wenn der Verstorbene ihr eigenes Kind ist...“

„Na ja, jeder hat seine Art.“

„Man sagt, sie lag in den Armen eines Fremden, als vor drei Tagen nachts das Kind erlosch“, sprach die bebrillte langnasige Frau, die hinter Armen stand. „Man sagt, sie hatte das Kind ins Krankenhaus gesteckt und sich mit fremden Männern eingelassen“, schnaubte sie mit neidvoller Verachtung.

„Ja, stimmt, auch ich hab’s gehört“, echote jemand, dessen Gesicht nicht zu sehen war, von hinten.

Armen hielt sich unwillkürlich die Ohren zu. Er senkte den Kopf, heftete den Blick auf den Boden und erblasste. Mischa war also gerade in der Nacht gestorben, als er sich mit Sarah in seinen Armen in ihrem Bett wälzte, und durch seinen Kopf schoss die Geschichte des im Walddorf ermordeten Knaben, die er ganz und gar vergessen hatte. Der Vater des ermordeten Kindes war also Sarahs großer Bruder, der Gemeindevorsteher von Jigdig, der jetzt Kitaks neuer Bürgermeister geworden war. So war es also!...

Armen wollte aus der Menge hinaus, aber im letzten Augenblick tauchte Sarahs Gesicht im Trauerzug so nah auf, dass er stehen blieb: Nur einige Schritte von ihm entfernt schritt sie gesenkten Hauptes. Sie war schön wie nie zuvor und einen Augenblick lang erlebte er wieder die brennende Berührung ihres pochenden Körpers. Plötzlich hob Sarah, wie von einer Schlange gebissen, den Kopf und starrte Armen an, und ihr vor Schmerz verzerrter Blick war voller rachsüchtigen Hasses, als sei Armen die einzige Ursache ihres Kummers...

Armen senkte die Augen und heftete seinen Blick sinnlos auf die Straße. Bald endete der Trauerzug und glänzende Autos mit Trauerzeichen fuhren nun nacheinander. Es wurde ihm schwarz vor den Augen und er sah nur noch einen endlosen Strom unbestimmter Schatten, der vom Wald her kam und zur Steppe zog und sich in der Ferne im Nebel verlor. Es war gleichsam der Siegeszug des Todes, der durch Armen zog...

 

© Levon Sargsyan

© Sevak Aramazd