SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005
Vierter Teil, Kapitel 3
I
Vom Dach des Häuschens kam ein kurzes und dumpfes Klopfen, dem mit einer Verspätung ein zweites folgte, kurz danach bebte und dröhnte das Dach vom starken Platzregen, es war, als ob unzählige kleine Steinchen vom Himmel herunterfielen. Mit dem Geräusch drang auch ein kalter Luftzug ins Häuschen und ringsum wurde es beträchtlich kühler. All das war so unerwartet, dass Armen eine Weile verblüfft war und nicht begreifen konnte, was geschah.
„Es regnet…“ begriff er endlich und wollte hinauslaufen, um etwas davor zu bewahren, nass zu werden, aber da fiel ihm ein, dass er draußen nichts hatte, was nass werden konnte, und dass er überhaupt nichts zu tun und zu unterlassen, zu verlieren oder zu finden hatte, und das machte ihn unsäglich traurig... Zuerst in der gegenüberliegenden Ecke, danach in der Mitte und dann noch an einigen Stellen begann das Regenwasser durchzusickern. Er zog sich zur Wand zurück und schnaubte verärgert: Er hatte ja, als er das Häuschen baute, sorgfältig alle Ritzen gestopft und verschmiert. Dann machte er sich doch Vorwürfe, wegen Schlamperei, aber sein Ausbruch ging spurlos vorüber, ohne die Stille oder den Lärm in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen. Er umfasste seine Knie und starrte schweigend nach draußen, wo das Dunkel von dem Geräusch des Regens sich verdichtet zu haben schien, es war, als gäbe es das Rauschen, den Regen aber nicht: ein zielloses Geräusch...
Kurz danach kam zum Regen auch noch der Wind hinzu, der das Geräusch des Regens mal übertönte, mal verstärkte, so dass der Regen zu tanzen schien. Dann hörte der Wind unverhofft auf und nur das Geräusch blieb übrig, das im Häuschen eintönig widerhallte. Armen atmete unwillkürlich tief auf, er fühlte, dass dieses ziellose Geräusch des Regens eine Leichtigkeit mitgebracht hatte und sein gespanntes Schweigen in dem Geräusch nach und nach einen neuen Sinn bekam, einen gleichsam insularen Sinn, so wie das Meer dem von ihm umfassten Stück Land einen Sinn gibt…
Armen fühlte, dass auch er vom Geräusch umflutet und sich von seinen Ängsten gereinigt wurde. Und wie im augenblicklichen Licht des Blitzes erkannte er auf einmal den natürlichen Zustand, in dem er sich eigentlich gleich von Anbeginn hätte befinden sollen, und im selben Augenblick berührte etwas zärtlich seine Nasenlöcher und er nahm den ehrlichen, ursprünglichen feuchten Geruch der Erde wahr, der still und unauffällig aufgestiegen war und nun überall in der Luft lag. In seinem Innern regte sich ein kindlicher Jubel, sein Herz schlug höher und ein ungestümer Wunsch, hinauszustürzen und nackt im Regen zu tanzen und zu lachen, ohne Ende zu lachen, erfasste ihn...
Das Geräusch hörte plötzlich auf und eine tiefe Stille trat ein. Es war ihm, als schwebte er in der Unendlichkeit, und einen Augenblick lang sah er den Himmel, den wahren Himmel, nicht den, der immer über der Welt hing und sich öffnen und schließen konnte, sondern jenen einzigen Himmel, der nicht mit sichtbaren und unsichtbaren Sternen, nicht mit der Sonne, nicht mit dem Mond, nicht mit den Wolken und nicht mit der Luft bedeckt war, sondern vollkommen rein war. Und gering, überaus gering, verachtenswert und unwesentlich erschien ihm alles, was Leben hieß, Welt und Mensch. Und was sind sie denn! Nur Mensch, der von tausend dummen Sachen lebt, ohne die, wenn sie nicht mehr da sind, er ebenfalls sterben wird, aufhören wird, zu sein! Nur Leben, das in keiner anderen Weise existiert als in einem sinnlosen Kampf, ohne den, wenn dieser nicht mehr da ist, es ebenfalls aufhören wird! Und nur Welt, eine absurde Grimasse, irgendein Wasser und Land, die den ersten Beiden dumme Dienste leistet! Und daneben die Zeit, die ziel- und zwecklos an all dem vorbeigeht, gleichgültig und dumpf!... All das ist wenig, wenig, schmerzhaft wenig! Aber es gibt, es muss etwas Besseres geben, etwas Grenzenloses und Großes, das dem Menschen nicht gegeben ist, sondern gleichsam aufgehoben ist für einen, der besser ist und würdiger, der frei ist vom Zwang zu leben, zu existieren, und einzig und allein über sich selbst verfügt...
Armen wurde traurig: Von diesem Einen trennen ihn unzählige Zeiten und er muss tausend Leben und tausend Tode durchmachen, um ihn zu erreichen...
II
Plötzlich wurde die Hälfte des Häuschens heller, es war ein mattes, fahles und erregendes Licht und Armen sah aus seiner dunklen Ecke, wie im Himmel aus einer länglichen schwarzen Wolke wie aus einem Etui die Sichel des Mondes langsam herausschwamm, erwartungsvoll in der Luft hängen blieb und zu leuchten begann. Der Regen hatte aufgehört und ringsum herrschte eine unnatürliche Stille.
„Die Mitternacht ist wahrscheinlich schon lange vorüber“, gähnte Armen, den Kopf schüttelnd, und schlug sich auf die Handwurzel. „Die verfluchten Mücken!...“ Er sah sich missmutig um und sein Blick verweilte auf den Bäumen im Hain; die nasse Masse ihrer miteinander verflochtenen Blätter breitete sich wie ein riesiges Spinngewebe ringsum und verströmte, vom Mondschein umflutet, einen matten Glanz, was die Schwärze der lauernden dunklen Tiefen weiter unterstrich. Plötzlich schüttelten sich die Wipfel der Bäume heftig und es erhob sich ein betäubender Lärm; Vögel oder Schatten von Vögeln stoben erschrocken auseinander, dann traten aus dem allgemeinen Getöse alarmierte Schreie von Elstern hervor, wahrscheinlich hatten sie eine Katze gesehen.
„Vielleicht wieder jene Katze...“ murmelte Armen und meinte die dicke gestreifte Katze mit gelben Augen, die sich damals in seinem zerstörten Häuschen versteckt hatte.
Kurz danach hörte er den Motor eines Autos ausgehen, aber seltsamerweise nicht von der Straße her, sondern aus dem fernen Dickicht, wo sich der Fluss wand. Danach folgten dumpfe Knalle nacheinander, als würden die Türen des Autos auf- und zugeworfen. Jemand räusperte sich. Dann trat wieder Stille ein. Armens Herz hämmerte alarmiert. Er lauschte gespannt im Gefühl, dass jede Bewegung und jede Stimme ihn an die Grenze des Wahnsinns führte und er langsam zu einer explosiven Kugel galliger Bosheit wurde. Er hörte mit einer verblüffenden Deutlichkeit alles, seine Seele war noch nie in seinem Leben so dunkel und undurchdringlich und sein Denken so klar und empfindlich gewesen.
„Du sagst, er wohnt allein?“ ließ sich unerwartet klar eine grobe hochmütige Stimme aus dem Dickicht vernehmen.
„Ja“, antwortete eine zweite - scharfe und trockene - Stimme.
„Aha!“ sprach der erste. „Und das hier ist wohl sein Schloss. Sieh dir nur den Zaun an! Es fehlt nur der Stacheldraht, ein Wachturm und ein Wachposten mit der Waffe in der Hand...“
„Macht nichts, das Versäumte wird er an dem geeigneten Ort auf eigenes Ersuchen nachholen“, pflichtete der andere bei und lachte unterwürfig, als suchte er dem ersteren zu gefallen.
„Na, na!“ mahnte dieser. „Leise sprechen und wachsam bleiben!“
„Warum?“ wagte der andere zu fragen.
„Auf alle Fälle“, antwortete der erste bedeutungsvoll und räusperte sich vorsichtig.
Die Stimmen verstummten, als wären sie in den Boden gesunken, und wieder trat Stille ein. Der Mond wurde auf einmal heller und der Hof des Häuschens füllte sich mit einem weißen leblosen Licht. Ein schwankender kreuzförmiger Schatten überquerte den Hof, überflog den Zaun, glitt auf die Bäume zu und verschmolz mit der Finsternis. Ein kurzer Flügelschlag und ein schrilles Krächzen ließen sich aus dem dunklen Laub der Bäume vernehmen. Aus dem allgemeinen Dunkel tauchten zwei Menschenschatten auf, ihnen folgten ein dumpfer und dennoch bestimmter Lärm, das Rauschen des Grases, das getreten wurde, das Rascheln von Kleidern, und wie aus dem Boden geschossen erschienen zwei einander ähnliche Gestalten, es waren Polizisten...
„Ach, das ist das Ende!...“ rief Armen aus, in Panik geraten, und er spürte ein scharfes Stechen in der Brust.
Die Polizisten rückten heran. Im Schatten der Mützenschirme waren ihre Gesichter nicht zu erkennen und es schien, als schwebten nur zwei leere Mützen in der trüben Luft. Vorne ging mit langsamen, schweren Schritten, die Schultern leicht wiegend, ein breitschultriger Polizist von wuchtigem Wuchs. Etwas hinter ihm schritt ein drahtiger mittelgroßer Mann mit schroffen Bewegungen. Vor ihnen schritten ihre schmalen und engen Schatten, die, bei dem Zaun angelangt, wie auf ein Hindernis getroffen, zögernd stehen blieben und dann auf die Straße zugingen. Armen dachte einen Augenblick lang, dass die Polizisten einfach vorbeigingen und nichts weiter. Er atmete erleichtert auf und plötzlich kamen ihm diese beiden sehr bekannt vor. Er begann, in seinem Gedächtnis fieberhaft zu wühlen, spürte aber mit Angst, dass er sein Erinnerungsvermögen eingebüßt hatte: Anstatt der Erinnerung schwieg in seinem Innern eine dunkle, grenzenlose Höhle. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust und er krampfte sich noch mehr zusammen. All das erinnerte an einen quälenden Traum...
Plötzlich hörte er den starken Knall des Zauntürchens, das klägliche Knarren vom brechenden Holz und die Luft ringsum füllte sich mit lautem chaotischem Getrampel, als sei ein ganzes bewaffnetes Heer in den Hof eingefallen.
„Stillgestanden! Keine Bewegung!“ schrie der Riese und stellte sich rechts vom Eingang des Häuschens, während der andere zum Angriff bereit und bedrohlich links davon in Stellung ging. Armen erkannte die beiden: Bei dem Wuchtigen handelte es sich um Sili, der andere war Gamer.
„Gamer, sieh im Häuschen nach!“ befahl Sili in einem trocken offiziellen Ton.
„Zu Befehl! Ich sehe im Häuschen nach!“
Der Mond zog sich plötzlich wieder in sein Etui zurück und ringsum alles wurde dunkel; es war, als wäre es der riesige Schatten des Mondes selbst, der alle anderen Schatten verschlang und stillstand. Die Polizisten waren überrascht und für eine Weile trat Stille ein. Im Dunkel sahen sie wie beleibte Schatten aus, es war, als wären ihre Schatten in sie gefahren und hätten ihren Platz eingenommen, während ihre Besitzer verschwunden wären. Im nächsten Augenblick explodierte Silis von Panik zeugende Stimme, in ihr war keine Spur mehr von dem früheren hochmütigen Auf-treten.
„Was glotzt du so?“ fuhr er Gamer an, „sagte ich nicht, du Dummkopf, dass du ins Häuschen sollst?“
Gamer trat verängstigt nach vorn und spähte, an der Schwelle des Häuschens angelangt, neugierig hinein so, als schnüffelte er. Seine Augen waren nicht zu sehen, die Augenhöhlen waren mit Dunkel gefüllt und nur vage zeichneten sich die platte Nase und die hervorstehenden Backenknochen, der große Mund und das spitze Kinn ab.
„Er ist da!“ rief Gamer plötzlich munter Sili zu. „Vor Angst wie eine Ratte in ein Loch verkrochen...“
„Gut, Gamer!“ sagte Sili erleichtert und mit Nachdruck. „Gib ihm einen Katzenkopf und hol ihn heraus!“
Gamer trat mit sicheren Schritten ins Häuschen, rutschte aber in der Mitte des Raums auf dem von dem durchgesickerten Regen nass gewordenen Boden unerwartet aus.
„Ich bin in Mist getreten... Sili, das ist hier ein echter Viehstall!...“ Er lachte kurz.
Armen spürte, dass je näher Gamer kam, umso mehr in ihm selbst eine rachsüchtige Wut aufstieg und er sich mit jedem Augenblick in eine gehässige Ratte verwandelte, die sich in der dunklen Ecke zusammengekauert hat und mit glänzenden Augen seinen Gegner verfolgt, nach dessen jeder Bewegung späht und sich immer mehr gruselt...
„He du!“ schrie Gamer höhnisch, bei Armen angelangt, und stieß ihn mit der scharfen Schuhspitze in die Seite. „Siehst du nicht, wer vor dir steht? Steh sofort auf, du Maus!...“ Er versetzte Armen noch einen Schlag, diesmal stärker, dann packte er ihn grob am Kragen.
Armen sprang wie irrsinnig auf und griff Gamer an, von einem einzigen Wunsch erfasst, diesen seinen einzigen Feind zu zerschlagen, zu vernichten, zu Staub zu zerreiben. Einen Augenblick lang sah er vor sich in der Luft Gamers vor Angst und Überraschung verzerrtes Gesicht und den blutroten Glanz seiner trüben, betrunken wirkenden Augen, dann schlug er mit dem Kopf gegen dessen Brust. Mit einem kurzen Schmerzensschrei prallte Gamer ab und schlug mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Wand. Ein schrecklicher Lärm erhob sich, ein ungeheuerliches Durcheinander von Stimmen und Bewegungen.
Armen versuchte Gamer nochmals zu schlagen, aber der Schlag seiner Faust blieb in der Luft wie in einer bodenlosen Leere hängen. Vor Machtlosigkeit ließ er auf einmal den Kopf auf die Brust hängen und blieb reglos. Es war die Macht, die ihm gegenüber stand, sie war nicht zu besiegen, und obwohl er im Vergleich zur Macht ein verachtenswertes Nichts war, gab es in ihm doch etwas, was sich davor ekelte, davor floh, sie nicht akzeptierte und daran nicht einmal streifen wollte... Armen führte die Hände unwillkürlich zum Gesicht und spürte im selben Augenblick einen schrecklichen Schlag auf seine Schläfe, ihm verging Hören und Sehen, er fiel seitlings auf den Boden und stieß mit dem Kopf gegen den Eckpfeiler.
„Gib ihm mal auf die Fresse!...“ schrie Sili. „Mit dem Absatz, mit dem Absatz!...“
„Du Straßendreck, auf wen schlägst du da?!...“ hörte er Gamers schrille Stimme. „Ich werde gleich dein Blut trinken, ohne einen Schluck-auf zu bekommen!...“
Dann hagelte es unzählige Schläge mit Füßen und Fäusten auf Armens Körper, wo sie ihn nur treffen konnten. Es war ihm, als fielen Steine irgendwoher auf ihn herab und begrüben ihn unter ihrer Last. Sein Gehirn schien ihm knisternd zu brennen und in seinem Kopf kreiste nur ein Gedanke: „Nur dass sie mein Gesicht nicht treffen... Nur dass sie mein Gesicht nicht treffen... Nur dass sie mein Gesicht nicht treffen...“ Er presste die Hände immer fester gegen das Gesicht. Silis und Gamers Schreie und Flüche hörte er wie durch die dröhnenden Wände des Häuschens. Sein Körper wurde immer starrer und er fühlte nichts...
„Die Haare, Gamer, die Haare!...“ donnerte Sili und Armen spürte, wie eine große Pfote ihre scharfen Krallen ihm in die Kopfhaut bohrte, seine Haare fasste, seinen Hals drehte und seinen Kopf gegen den Eckpfeiler zu schlagen versuchte. Vor dem entsetzlichen Schmerz schrie Armen auf und ließ für einen Moment das Gesicht aus den Händen und sogleich bekam er einen kräftigen Schlag mit dem Schuhabsatz auf seinen Mund. Das Blut schoss hinaus...
„Hab ich nicht gesagt, dass er kein Mensch ist... ein steinhartes Vieh...!?“ schrie Gamer außer Atem. „Sili, hilf!...“ Mit der scharfen Schuhspitze schlug er wieder auf Armens Mund, aber dieser konnte sich noch im letzten Augenblick mit den beiden Händen das Gesicht bedecken und der Schlag traf diesmal seine Handwurzel; es schien ihm, als ob eine glühende Eisenstange sein Handgelenk durchbohrte, und sein Ohr stach das Knacken brechenden Knochens…
„Aufhören!“ erreichte eine heisere Bassstimme Armens Ohr, sie kam gleichsam aus einer unendlichen Ferne, wie aus dem Himmel, und kam ihm bekannt vor. „Gamer, beschlagnahme die Reisetasche und du, Sili, bring ihn mit Wasser zur Besinnung!“
Armen lag reglos in der Ecke mit dem Gesicht nach unten. Gamer stellte einen Fuß auf seinen Nacken, beugte sich und zog die Reistasche unter ihm hervor. Schon im Gehen drehte er sich um, nahm Anlauf, trat Armen aus aller Kraft mit der Schuhspitze in die Seite und ging, laut schimpfend, weg. Von dem Schlag wurde Armens Körper erschüttert, dann blieb er regungslos. Kurz danach wurde ein starker Wasserstrahl auf ihn gerichtet, dann hörte man den leeren Eimer auf den Boden knallen; der Eimer rollte, stieß an Armens Rücken und blieb da liegen.
„Wartet am Auto!“ befahl dieselbe bekannte Stimme Gamer und Sili, die schwer keuchten. „Ich werde ihn selbst bringen!“
Dumpfe Schritte, die sich entfernten, und es trat wieder Stille ein. Der Mond erschien wieder und der Hof füllte sich mit dem eintönigen Gesang der Grillen und dem emsigen Gesumm der Nachtkäfer.
III
„He du Märchenheld!“ erschallte dieselbe heisere Bassstimme plötzlich in der Stille, darin war keine Spur von Spott. „Ich denke, du hast dich genug erholt. Und jetzt komm raus aus dieser deiner... Höhle!“
Armen war vor Schmerz erstarrt. Er fühlte nur, dass er gleichsam aus seinem Körper hinausgeglitten war und durch einen dunklen Durchgang zu unbekannten Welten sauste. Als er die Stimme hörte, zuckte er zusammen und kam zu sich. In seinem Kopf knallte es dumpf, eine unsichtbare Saite riss und an der leeren Stelle entzündete sich ein kleines Licht, das wieder ein vages Gefühl der Wirklichkeit vermittelte. Seine Kopfhaut spannte sich und die Haare standen ihm zu Berge. In den Schläfen begann es wild zu hämmern und es war ihm, als würde sein Kopf jeden Augenblick platzen und würde sich sein Gehirn auf den dunklen Boden ergießen.
„Steh auf!“ befahl die Stimme wieder, sie hatte denselben kalten Klang, der wie der Mondschein anmutete. „Du bist nicht der erste und nicht der letzte; hab keine Angst, du wirst nicht sterben!“
Die Stimme klang deutlich, mit einer eisernen Teilnahmslosigkeit und besaß einen unmenschlichen Ernst und den Zauber des Mondes. Armen fühlte, dass die Stimme nicht zu widersetzen war. Er bemühte sich, aufzustehen, aber vergeblich. Schwer keuchend griff er nach dem Eckpfeiler und konnte sich schwankend erheben, aber er stand noch nicht auf den Beinen, als ihm die Knie weich wurden, er rutschte auf den beiden Seiten aus und stürzte wie ein entwurzelter Baum zu Boden.
„Versuch ’s wieder!“ befahl die Stimme.
Armen kroch zurück, saß mühsam auf und lehnte den Kopf kraftlos gegen die Wand. Er war ganz nass und hatte das Gefühl, er schwimme im eigenen Blut. Er fühlte seine gebrochene rechte Hand überhaupt nicht, als existierte sie gar nicht. Im Mund hatte er unerträglich brennende Schmerzen. Er versuchte, seine Lippen zu rühren, aber vergeblich; die Lippen waren geschwollen und klebten aneinander. Er berührte seinen Mund: Ein Stoßzahn war gebrochen, ihm unter die Zunge geraten und tat schrecklich Weh. Mühsam spuckte er den Zahn aus und erschrak im selben Augenblick, da er glaubte, dass ihm etwas sehr Wichtiges abhanden gekommen war. Er tastete nach dem Zahn auf dem Boden und traf mit dem Zeigefinger auf etwas. Erfreut hob er es auf und betastete es: Nein, das war kein Zahn, sondern ein runder Knopf, wahrscheinlich einer von der Uniform Gamers, der im Gerangel abgegangen war. Er drückte den Knopf wie eine Beute fest in der Faust und spürte, dass er seine Kräfte nach und nach wiedergewann...
„So...“ sagte die Stimme kurz.
Armen zog sich stöhnend weiter zurück und sah, den Hals mühsam gereckt, hinaus: Im Hof am Zaun stand im Mondlicht Tscharkin, die Hände in den Taschen, und schaute zum Häuschen in die Dunkelheit hinein. Er sah ungemein feierlich aus und hatte dieselbe nagelneue Uniform, die er während des Begräbnisses von Mischa trug. So sah er dicker aus, zumal auf seinen Schulterstücken sechs große Sterne glänzten: drei auf der rechten Schulter und drei auf der linken. Sein graues Gesicht hatte einen reglosen versteinerten Ausdruck, der unbeugsamen Willen und Entschlossenheit ausstrahlte. Die schmalen Lippen waren fest zusammengepresst. Er schien eine leblose Statue und kein lebendiger Mensch zu sein. Armen erblasste.
„Hör mal, bist du taub oder willst du, dass ich Engel dich abholen schicke...?“ Tscharkin holte mit einer nervösen Bewegung ein großes Schlüsselbund aus der Tasche und begann es in der Hand fieberhaft hin und her zu drehen.
Armen gab sich Mühe und stand stöhnend auf, er hielt sich an der Wand fest und ging langsam wie ein Kind, das erst das Gehen lernt, oder wie ein schwindsüchtiger Greis zum Ausgang. Als er endlich aus dem Häuschen hinaustrat und sich am Pfeiler des Eingangs stützte, war es ihm, als wären in einem Augenblick Tausende von Jahren verstrichen, und er hatte das unerwartete Gefühl eines aus einem langen quälenden Traum Erwachten. Es verschwamm ihm vor den Augen, sein Kopf schwindelte angenehm und er war von der süßen Glückseligkeit des Vergessens gepackt...
„Es ist vollbracht...“ erklang gleichsam in seinem Kopf das ferne Echo einer unbekannten Stimme.
Angesichts der blutverschmierten Gestalt Armens, seiner zerzausten Haare, zerfetzten Kleider, die um seinen Leib schlotterten, schien Tschar-kin einen Augenblick lang überrascht und der kalte, durchdringende Glanz seiner Augen schwand plötzlich. Er wandte schnell sein Gesicht ab, holte aus der Tasche ein großes weißes Taschentuch und begann, den Schweiß von der Stirn und dem Hals lange und sorgfältig zu wischen. Dann stieß er demonstrativ einen Seufzer aus, faltete das Taschentuch wieder zusammen und schmiss es unerwartet zu Armen.
„Nimm!“ sagte er, ohne ihn anzusehen. „Wisch dir das Gesicht!“
Armen blieb reglos. Das Taschentuch fiel in die Regenpfütze in der Mitte des Hofes und versank darin. Tscharkin wurde verlegen, dann trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen, schmatzte mit den Lippen, und sein Gesicht nahm den früheren finsteren Ausdruck einer Statue an.
„Vor drei Tagen bist du mir entkommen“, sagte Tscharkin, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Du dachtest wohl, du kannst so einfach davonkommen, ja?“
„Ich... bin nicht geflohen“, sagte Armen mühsam. „Ski ließ mich gehen...“
„Ski...!“ sprach Tscharkin gedehnt aus. „Welcher Ski? Jetzt bin ich Ski! Bist du denn so blöd, dass du die einfachsten Sachen nicht verstehst?“ sagte er beleidigt.
„Ich... habe... keine Schuld“, fügte Armen die Wörter mühsam zusammen.
„Ich glaube, du verstehst, welchen Fehler du gemacht hast, als du dem Gesetz Widerstand geleistet hast.“
„Aber man hat mich beleidigt...“ erwiderte Armen und wurde verlegen.
„Dir hat keiner was gesagt oder angetan“, sagte Tscharkin drohend mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Du lügst, um der Verantwortung zu entgehen.“
„Wieso...?“ fragte Armen verblüfft. „Und meine...“
„Halt ’s Maul!“ zürnte Tscharkin. „Hör auf, sonst erschwerst du nur deine Lage.“
Armen blieb still. Er fühlte vage, dass er selbst irgendwo irgendwann einen schicksalsträchtigen Fehler begangen hatte, konnte aber nicht verstehen, welchen. Er schaute mit offenem Mund, erstaunt wie ein Kind, eine Weile Tscharkin an, sah ihn aber nicht; im Mondlicht nahm er nur den stechenden Glanz der sechs Sterne auf seinen Schulterstücken wahr.
„Gut!“ winkte Tscharkin bedeutungsvoll mit der Hand und auf seinem reglosen Gesicht erschien ein undurchdringliches Lächeln, das sofort verschwand.
Armen hatte das Gefühl, dass Tscharkin ihm überall gefolgt war. Er wandte den Blick ab und wurde plötzlich von einem unbestimmten schweren Schuldgefühl befallen...
„Vor drei Tagen warst du wieder in Jigdig“, sagte Tscharkin mit kalter eindrucksvoller Stimme, indem er sich umsah und dann Armen an-glotzte.
Armen war überrascht, es war ihm, als ob ein Blitz in ihn eingeschlagen und ihn zu Asche verbrannt hätte. Auf einmal verstand er alles...
„Ja“, entgegnete er, den Kopf senkend, mit schwacher, gleichgültiger Stimme. „Ich suchte... einen Job...“
„Du warst in Jigdig auch genau vor dreiundzwanzig...“ Tscharkin schaute auf seine prächtige Armbanduhr, „nein, die Mitternacht ist schon vorbei... genauer, vor vierundzwanzig Tagen.“
„Ich war zum ersten Mal in diesem Dorf...“ widersprach Armen, er konnte die Worte nur mühsam hervorbringen, denn er bekam keine Luft. „Die Alte... die Kuchen verkaufte...“
„Die Alte, die du meinst, schläft schon bei den Toten“, versetzte Tscharkin schadenfroh. „Es ist besser, du versuchst nicht, mich zu beschwindeln, sondern gestehst; ich glaube, du weißt schon, worum es hier geht.“ Tscharkin reckte das Kinn nach oben und sah, die Augen zusammengekniffen, als schnüffelte er, hinauf zum Himmel, wo der Mond grausam hell schien, und ein Schatten flog über sein Gesicht.
„Ich weiß nicht...“
„Doch!“ entgegnete Tscharkin unerwartet ruhig. „Darüber wissen selbst die ungeborenen Kinder Bescheid...“ Er ließ seine Augen gierig aufleuchten und lächelte breit, es war sein gewöhnliches graues Lächeln.
Armen dachte daran, dass Tscharkin bis jetzt seinen Namen noch nicht ein einziges Mal genannt hatte, als existierte er für ihn überhaupt nicht...
„Die Bauern von Jigdig haben dich erkannt“ fuhr Tscharkin fort. „Und das Wichtigste ist, dass du selbst über deinen Besuch in Jigdig mit allen Einzelheiten erzählt hast.“
„Wem?“ fragte Armen verblüfft.
Tscharkin gab keine Antwort.
„Wem?“ wiederholte Armen und schluckte. Plötzlich stach ihm gleichsam der scharfe Geruch eines verwesenden Körpers in die Nase und er verzerrte schmerzhaft das Gesicht.
„Sarah Semyanka“, sagte Tscharkin langsam-feierlich, trat von einem Fuß auf den anderen und grinste vieldeutig. „Ich glaube, du müsstest sie gut kennen...“
Armen gefror das Blut in den Adern. Der Mond verschwand wieder und der Hof war nun ganz dunkel. Gleichsam eine unsichtbare Tür lautlos brechend, drang die Finsternis in alle Ecken, sickerte in alle Dinge ein, stahl und versteckte sie an einem geheimen Platz. Die Nacht hatte sich nun endgültig behauptet.
„Geh vor!“ erdröhnte Tscharkins heisere Bassstimme im Dunkel aus der Nähe. „Das Übrige werden wir später sehen!“
Mühsam die Beine schleppend, ging Armen wortlos vor, Tscharkin folgte ihm. Armen fühlte weder die eigene Anwesenheit noch die Tschar-kins, als wenn sie beiden in gleicher Weise mit der Finsternis verschmolzen und verschwunden wären. Das Einzige, was war und atmete, war die grenzenlose Stille. Als sie durch die Zauntür hinausgingen, blieb Armen einen Augenblick lang stehen und sah sich um...
Er war fünf Jahre alt, als er zum ersten Mal den Berg der Sieben Quellen sah, den Berg seiner Träume. Er war sehr erstaunt, als er anstelle von sieben gegen den Himmel sprudelnden Quellen nur eine fand, die aus dem Berg hervorquoll und, unter dem mächtigen Felsenufer verborgen, von außen unsichtbar blieb. Es war ein kleines und reines Wasserbecken, dessen unbewegtes und durchsichtiges Wasser erstaunlicherweise weder zu- noch abnahm, obwohl sich davon alle ernährten: Menschen, Tiere, Insekten, Gräser und sogar bemooste Steine, deren kalter und feuchter Duft ständig in der Luft lag. Er hatte sieben verschiedene bunte Blumen gepflückt, um sie bei seinem nächsten Besuch der Quelle zu schenken, weil er dachte, dass ein Geschenk immer von weit hergebracht werden sollte. In einer Hand die Blumen und in der anderen die Hand der Mutter ging er nach Haus. Die Mutter trug ein großes Bündel auf den Schultern, das mit allerlei Kräutern gefüllt war, aus denen sie Arzneien gegen verschiedene Krankheiten machte. Der Himmel war mit schwarzen und düsteren Wolken bedeckt, es wurde immer dunkler, ein scharfer und kalter Wind blies ihnen entgegen. Er sah sich um: In der Abenddämmerung erhob sich der Berg, einsam und stumm, wie in abgrundtiefe Gedanken versunken. Die Mutter zog ihn alarmiert am Arm und erst da nahm er den Ton ihres schweren und müden Atems wahr. Oben am Rande der Kluft zeichneten sich vage die Umrisse einer riesigen einsamen Platane ab, deren Rauschen, mit dem des Windes vermischt, in der Kluft donnernd widerhallte. Er drückte sich verängstigt immer fester an die Mutter und machte ihr das Steigen schwer. „Geduld, mein Sohn!“, wiederholte sie immer wieder. „Bald sind wir bei der Platane und der Baum wird uns retten...“ Als die Platane schon nah war, ganz nah, trat plötzlich eine merkwürdige Stille ein, in der sich nur ein gleichsam geheimes Flüstern vernehmen ließ, und er bekam eine Gänsehaut. Eine Sekunde später brach oben ein fürchterlicher Sturm aus, der Himmel leuchtete mit einem gewaltigen Donnern auf und irgendwo ganz in der Nähe schlug mit einem betäubenden Rauschen ein Blitz ein. Die Mutter warf das Bündel, umschlang ihn, einen kurzen Schrei ausstoßend, und fiel um, im nächsten Augenblick blendete ihn ein Leuchten, er nahm den dicken brandigen Geruch des brennenden Holzes und ein scharfes Knistern wahr. Einen Augenblick lang sah er unter dem Arm der Mutter die Platane in Flammen, dann schlossen ihre Haare auch diese Spalte und nun wurde es ringsum vollkommen dunkel. Dann hörte er, den Kopf zwischen den Brüsten der Mutter vergraben und mit verhaltenem Atem, wie ein starker Platzregen den Leib seiner Mutter peitschte, während er selbst trocken und warm blieb. Als wieder Stille eintrat, hob ihn sie mit einem schweren Gestöhn auf. In der Stille der Abenddämmerung stand die Platane breitastig und unerschütterlich da, sie schien sogar noch üppiger und mächtiger, und er verstand, dass der Blitz den Baum in Brand gesetzt und der Regen den Brand gelöscht hatte. Das war wie ein Spiel gewesen und er fühlte eine Leichtigkeit. Die Mutter sah ihn an und erschrak: Er war bleich und konnte kaum sprechen. „Die Angst hat meinen Sohn geschlagen...“ sprach die Mutter außer sich. „Schnell, lass uns zu den Sieben Quellen zurückgehen!...“ Er fühlte scharf die Leere seiner rechten Hand, die Blumen waren aus seiner Hand verschwunden, in dem Handteller war nur die warme Erinnerung an sie und in den Nasenlöchern ihr zarter Duft geblieben. „Meine Blu-u-men!...“ schluchzte er. „Meine Blu-u-men sind weg...“ Er riss sich von der Hand der Mutter los und begann, im Dunkel auf allen Vieren nach den Blumen zu suchen, die seiner Hand entfallen waren und sich ringsum verstreut hatten. Er fand sie nach ihrem Duft und sammelte sie - eine nach der anderen - auf, aber seine Lieblingsblume, die einzige Immortelle, konnte er nicht finden und er begann bitterlich zu weinen. „Genug!“ verlor die Mutter die Geduld, zog ihn am Arm und sie gingen wieder zum Berg. Der Himmel hatte sich aufgeklart und auf einmal mit Sternen gefüllt, die gleichsam ein Festmahl in der Höhe hielten, laut einander zuriefen, fröhlich lärmten und lachten, sich am kühlen Wein des Abends labend. Er war traurig, zu Tode betrübt, dachte ununterbrochen an die Immortelle, es war ihm, als riefe sie nach ihm im Dunkel, aber konnte ihn nicht finden. Als sie am Felsenufer angelangt waren, neigte sich die Mutter zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr, er dürfte weder zurückschauen noch sprechen und sollte die ganze Zeit stumm bleiben. Auf einem kleinen und schmalen Pfad folgte er tastend seiner Mutter, und je weiter sie gingen, umso mehr verdichtete sich die frostige Stille. Die Felsenmassen erinnerten mit ihren vagen Umrissen an riesige, schwarz gefiederte Adler, die in einer Reihe den Zugang zur Quelle überwachten. Sie schienen seine Mutter zu kennen und so durften die Mutter und er ungehindert weitergehen. Da war schon auch die Quelle, eine geräumige Höhle mit einem bogenförmigen Eingang, in der Tiefe der Höhle lag das kleine Wasserbecken. Am Rande des Beckens erhob sich gleich einer Säule ein senkrechter Fels, der eine erstaunlich runde Form, eine glatte Oberfläche aufwies und im Dunkel funkelte, als wenn in seinem Innern eine geheimnisvolle Flamme loderte, deren Schein auf das Wasser fiel, und das Wasser glänzte wie ein reiner und tiefer Spiegel. Die Mutter kniete auf dem kalten Boden nieder, verneigte sich dreimal vor dem Wasserbecken, wandte sich dann zur Felsensäule, senkte den Kopf und begann schnell ein Gebet zu murmeln. Ihre Stimme widerhallte in der bodenlosen Stille und füllte die Höhle mit einem sanften Gesang. Als die Mutter das Gebet beendet hatte, verbeugte sie sich wieder dreimal, indem sie den Kopf geheimnisvoll wiegte, vor der Felsensäule und bedeutete ihn wortlos die Blumen an der Säule niederzulegen. Er kniete ehrfurchtsvoll nieder und legte die Blumen, indem er sie still zählte, eine nach der anderen nieder. Die siebente, die Immortelle, fehlte. Er wurde unsäglich verlegen, zögerte einen Augenblick lang, dann entschlüpfte ihm ein kaum hörbares Flüstern: „Und ich...“
Ein stilles kindliches Lächeln leuchtete auf Armens Gesicht auf und erlosch im Dunkel für immer. Tscharkin zog schroff an seinem Arm.
IV
Es war kalt. Es nieselte. In der Morgendämmerung verborgen, kroch der Fluss unhörbar und die dichten Schatten des Schilfrohrs wärmten seinen frierenden Körper nicht. Es herrschte eine stumme, leere Stille, die Vögel waren in ihren Nestern verstummt, nur von Zeit zu Zeit machte sich ein fernes Tröpfeln hörbar, das in der Stille dumpf explodierte und sich in dem undurchsichtigen Nebel auflöste.
Am anderen Ufer des Flusses saß Ata, den Rücken an den Stamm eines großen verdorrten Baums gelehnt, an seinem gewohnten Platz und er gähnte immer wieder, sein schütterer Bart kam dabei ins Schütteln. Er hatte die Angel an einen langen Zweig des vertrockneten Baums gebunden, der über dem Fluss hing, und wartete, mit den geschwollenen und mit Blut gefüllten Augen das Wasser sinnlos anglotzend, auf das ersehnte Zucken der Angelschnur, aber ringsum herrschte nur Stille.
„Beiß doch an, verdammt noch mal!“ schnaubte er missmutig. „Sonst zerquetsch’ ich dich wie einen Wurm wie alle anderen auch schon...“
„Na, geht ’s nicht gut?“ ließ sich eine heisere Bassstimme von links plötzlich vernehmen, kurz danach tauchte aus dem Nebel ein hoch gewachsener Mann auf, er hatte einen langen Regenmantel an, den Kopf hatte er in den hohen Kragen hineingesteckt. „Du angelst Fische...“ sagte er flüchtig, indem er mit den Augen den Fluss musterte.
„Sollte ich denn etwa Menschen angeln!?“ entgegnete Ata und lachte. „Eigentlich wäre das gar nicht so schlecht, hätte mir eine lange Zeit die Sorge um das tägliche Brot erspart...“ Er wischte sich mit der Hand den Mund und wollte wieder lachen, bekam aber einen Hustenanfall.
Der Mann reagierte nicht. Er schien zerstreut, das übernächtige Gesicht hatte einen merklich bedrückten Ausdruck. Es war Tscharkin. Er blieb vor Ata stehen und wartete, bis dieser sich erholte.
„Ich hab einen guten Job für dich“, sagte Tscharkin flüchtig, ohne aufzusehen. „Hast du für heute genug getrunken oder noch nicht…?“ Er legte die Hand freundlich Ata auf die Schulter und ein kaum merkliches Schmunzeln erschien in seinem Gesicht und verschwand sofort.
„Was gibt ’s?“ fragte Ata gespannt, den kahlen Kopf ihm zugewandt.
„In der Nacht hat jemand im Fluss Selbstmord begangen“, sagte Tscharkin und deutete mit der Hand zum Fluss hin. „Die Leiche soll geborgen werden...“
Im Nebel, etwa in der Mitte des Flusses wiegte die Leiche eines Ertrunkenen, sie war an einem großen Baumstumpf hängen geblieben, man konnte nur den nackten Rücken und ein Stück vom Gürtel sehen.
Ata starrte erwartungsvoll Tscharkin an.
„Du kriegst eine ganze Flasche Rotwein als Lohn“, fuhr Tscharkin mit derselben sanften freundlichen Stimme. „Und dann...“
„Damit mach ich nicht mal meine Kehle nass!“ Ata wandte das Gesicht beleidigt ab. „Bin ich etwa ein Kind, das du betrügen willst?“ brummte er.
„Zwei...“
„Drei!“ entgegnete Ata. „Entscheide selbst!“ Er nahm die frühere gleichgültige Haltung ein und starrte auf den Fluss.
Der Nebel zerstreute sich nach und nach und die Leiche war klarer zu sehen.
„Gut, hol ihn heraus!“ Tscharkin schmatzte ungeduldig mit den Lippen.
Ata sprang mit erstaunlicher Leichtigkeit auf und verschwand hinter dem steilen Flussabhang. Eine Zeit lang waren nur das Rascheln hoher Gräser und die Geräusche der Bewegungen von Ata von unten zu hören. Dann plumpste ein langer trockener Ast in den Fluss, an seinem Ende war mit geschmeidigen Queckestielen ein zweispitziger Haken aus rostigem Metalldraht befestigt. Einige Male streifte der Haken den Rücken der Leiche und hinterließ darauf Kratzer, bis er endlich am Gürtel hängen blieb. Es war zuerst, als leistete die Leiche Widerstand, dann schwamm sie langsam auf das Ufer zu. Etwas später ließen sich Atas missmutiges Stöhnen und gedämpfte Flüche vernehmen, dann tauchte auch seine riesige hässliche Gestalt mit der Leiche auf dem Rücken auf.
Bei Tscharkin angelangt, warf Ata die Leiche mit einer gewohnten Bewegung hinunter und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Die Leiche fiel mit einem dumpfen Knall auf den Boden, Wasser spritzte in alle Seiten. Tscharkin wich nicht rechtzeitig zurück und seine Kleider wurden stellenweise nass.
„Pfui, du Räuber!“ schnaubte er und begann mit der Hand seine Kleider fieberhaft zu wischen.
Die Leiche zuckte leicht zu einem letzten Mal und blieb reglos auf dem Bauch liegen.
„Ist schwerer als sieben tote Schafe...“ sagte Ata keuchend, schluckte und lächelte.
Eine Weile starrten Ata und Tscharkin in gleicher Weise die Leiche an, auf deren Nacken eine tiefe runde Wunde war, mit geronnenem Blut gefüllt. Dann ertönte Tscharkins genervte Stimme in der Stille.
„Dreh ihn um!“ befahl er.
Ata steckte den Fuß unter die Leiche und drehte sie mit großer An-strengung um, nun lag sie auf dem Rücken. Einen Augenblick lang schien die Leiche sich zu rühren, die Arme ausbreitend. Im nächsten Moment lagen ihre starken Arme mit großen ehrlichen Händen wie leblose Steine reglos im Gras...
„Aha!“ wunderte sich Ata.
„Hast du ihn gekannt?“ fragte Tscharkin, die Augen zusammengekniffen.
„Ja, wir waren Nachbarn“ grinste Ata. „Aber er war kein guter Mensch, ein Feigling.“ Er kratzte sich lächelnd das Genick, ohne seinen Blick von der Leiche abzuwenden. „Einmal wollte er mich, als wir uns stritten, mit einem Brecheisen erschlagen, aber ich glotzte ihn so an, dass er das Brecheisen fallen ließ und wegrannte... Aber er hatte ein gutes Haus gebaut“, fügte er nach einem kurzen Schweigen neidvoll hinzu.
„Wo wohnst du?“ fragte Tscharkin.
„Im Holzschuppen der alten Werkstatt.“
„Möchtest du in seinem Haus wohnen?“
„Wäre nicht schlecht“, sagte Ata unsicher und ungläubig. „Aber...“ Ata sah Tscharkin an und hielt inne, als er dessen drohend forschendem Blick begegnete.
Wieder trat Stille ein.
„Was hat der getan?“ fragte Ata vorsichtig.
„Vor achtundzwanzig Tagen in einem Walddorf ein Kind umgebracht“, sagte Tscharkin zerstreut und ließ die Augen ringsum wandern. „Gestern Nacht gelang es ihm unterwegs zum Gefängnis zu fliehen. Er war übergeschnappt, drohte immer wieder, Selbstmord zu begehen. Und tat ’s auch...“ Tscharkin richtete seinen Blick wieder auf Ata.
„Hm...“
„Du angeltest hier in der Nacht wie immer und hast im Mondlicht gesehen, wie dieser Mann mit irren Schreien zum Fluss rannte. Stimmt ’s?“
Ata trat von einem Fuß auf den anderen, blieb aber stumm.
„Dann hast du gesehen, wie die Polizisten ihn im Schilf suchten, sie fragten auch dich und du erzähltest ihnen, was du gesehen hattest.“
„Ja...“ sagte Ata unsicher.
„Die Polizisten suchten ihn die ganze Nacht, konnten ihn aber nicht finden; erst am Morgen hast du die Leiche im Fluss gesehen und mich benachrichtigt.“
„So ist ’s auch gewesen!“ bestätigte Ata ermutigt.
„Gut, du kriegst, was du willst“, sagte Tscharkin. „Bleib bei der Leiche! In einer Stunde trifft hier ein überaus wichtiger Mann ein, um vor Ort den Mörder seines Sohnes zu sehen. Du wirst ihm erzählen, wie alles passiert ist, ohne etwas auch nur im Geringsten zu ändern, klar?“
„Und die Wunde am Genick?“ erinnerte Ata.
„Die Experten werden feststellen, dass der flüchtige Kindermörder, als er sich in den Fluss stürzte, sich mit dem Nacken am spitzen Ende der Achse eines im Fluss versunkenen alten Karrens gestoßen hatte, und wir werden diese Achse aus dem Fluss bergen, als ein Beweisstück... Also gut, wie ich gesagt habe.“ Tscharkin schlug Ata beifällig kurz auf die Schulter, drehte sich um und ging mit munteren Schritten fort.
Allein geblieben, musterte Ata eine Weile die Leiche aufmerksam mit den Augen, um neue taugliche Details festzustellen; die rotblauen Wunden an der Brust und die großen blauen Flecke an den Armen könnten während des heftigen Todeskampfes entstanden sein, als der Ertrinkende im letzten Augenblick erfolglose Versuche machte, sich an den aus dem Wasser herausragenden Sträuchern und Baumstümpfen zu halten, jedoch sich dabei nur verletzte. Ata grinste, fluchte halblaut und versetzte einen starken Schlag der Leiche in die Seite.
„Da hast du ’s für alles, nimm ’s mit aus dieser Welt!...“ brummte er.
Die Leiche zuckte und etwas fiel aus der Hosentasche ins Gras. Ata hob es auf, putzte mit dem Ärmel seines Hemdes und hielt es gegen das Licht: Es war ein runder gelber Knopf, der wie Gold glänzte. Ata sah sich um, versteckte den Knopf tief in seiner Tasche, fiel über die Leiche her und begann fieberhaft schnell die Taschen der Leiche durchzuwühlen. Als er nichts fand, trat er, enttäuscht brummend, die Leiche nochmals, dann zog er auf seinen Platz zurück und setzte sich unter den verdorrten Baum. Er lehnte den Rücken gegen den Baum, gähnte, richtete den starren Blick wie vorher auf den Fluss und blieb reglos, aber die Angelschnur sah er nicht mehr. Kurz danach streckte er seine eingeschlafenen Beine aus, reckte sich genüsslich und plötzlich erstarrte sein geschwollenes Gesicht, als hätte ihn ein geheimer Gedanke überrascht...
Der Nebel hatte sich bereits ganz zerstreut und der Fluss, die Gräser, die Bäume und die Sträucher, die der Regen gewaschen hatte, glänzten hell in dem Morgenlicht. Bald erwachten auch die Vögel und das schattige Schilf füllte sich mit munterem Gesang und schrillen Rufen. Ein Grashüpfer hüpfte zum Fluss hinüber und irgendwo in der Nähe er-dröhnte das tiefe Gebrumm eines zottigen Käfers...
Der Leichnam lag in derselben Lage, das Gesicht nach oben gekehrt, die Arme weit ausgebreitet, als schickte er sich an, die aufgehende Sonne zu grüßen. Das Gesicht war erstaunlich unversehrt geblieben, die hohe und offene Stirn war vom Morgentau benetzt und nichts verriet seinen Tod. Nur in den Haaren hatten sich Reste verschiedener Pflanzen ver-fangen und in den Nasenlöchern und Ohren staken ins Grüne stechende Zipfel schlammiger Algen. Im reglosen Blick war ein stiller Schein erstarrt, er war vom Himmel gefallen wie durch das Fenster seines Vaterhauses.
© Levon Sargsyan
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