SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005

Zweiter Teil, Kapitel 2

I

 

Das Niedere Kitak war durch einen schmalen, aber undurchdringbar dichten Waldstreifen von dem Oberen Kitak getrennt und von den beiden Flussarmen in die Zange genommen. Das war eine alte vergessene Siedlung, wo ein feuchter Sumpfgeruch herrschte, der sich mit dem ranzigen Geruch des aus der endlosen Leere der Steppe wehenden Windes vermengte. Die Hauptstraße, die diesen wilden Ort teilte, sah genauso hoffnungslos ungepflegt aus wie der unregelmäßige Haufen der langen Kette der Hütten, die kein Ende zu haben schien. Hier und da erhoben sich seltene Einzelhäuser, die in diesem vollkommenen Grau zufälligen Lichtpunkten ähnelten und das allgemeine Elend nur betonten. Je mehr sich Armen in das Niedere Kitak vertiefte, umso mehr verstärkte sich dieser traurige Eindruck. Als er endlich die gesuchte Adresse fand, sah er, dass die Straße Kitak verließ und hinter dem Fluss in ununterscheidbarer Ferne verschwand.

Rechts erhob sich ein großer Hain gewaltiger Bäume, durch deren Laub lange und unförmige Bauten durchschimmerten. Drüben auf einem Feld, das an den Hain grenzte und einen grünlichen Ton hatte, spielten Kinder, fröhlich lärmend. Als Armen näher trat, hörten sie auf, zu spielen und starrten interessiert den Fremden an. Armen fragte nach der Werkstatt.

„Es ist da!... Es ist da!...“ schrien gleichzeitig die Kinder, einander ins Wort fallend, und es entstand ein betäubender Heidenlärm.

Armen lächelte, er hielt sich die Ohren zu und betrachtete die Menge; es waren zumeist kleine Kinder mit großen Äugelein, gleichen Gesichtern, von Kopf bis Fuß staubbedeckt, halbnackt und barfüßig.

„Könnt ihr mir das Haus des Wächters der Werkstatt zeigen?“ fragte Armen.

Die Kinder lachten laut.

„Er sucht Ata... ha-ha-ha!“ lärmten sie wieder mit einer bodenlosen Heiterkeit, einander stoßend. „Ata!...“

„Ata hat kein Haus“, schrie einer. „Er lebt wie der Wolf im Gebüsch und heult nachts so: U-u-h!“ Das Kind setzte sich auf alle vieren, hob das Frätzchen und begann wie ein Wolf zu heulen.

„U-u-u-h!... u-u-u-h!...“ stimmten sofort die anderen ein und ein echter Sturm wilder Schreie setzte ein.

„Ruhe!“ trat eine sanfte Mädchenstimme aus dem Lärm hervor und eine dünne feine Gestalt hob sich von dem Schatten der Bäume ab. Es war ein junges pubertäres Mädchen von erwachender Weiblichkeit mit einem rundlichen Gesicht. Es näherte sich schwebenden Ganges, teilte die Menge der Kinder, pflanzte sich vor Armen auf und fragte ihn mit ausgesprochener Würde, was er wünsche. Armen staunte über die tiefe Wehmut in den schönen Augen des Mädchens. Armen erzählte, dass da die „Welt der Kinder“ entstehen sollte und er den Wächter der Werkstatt suche.

Die Kinder, die Armen umstanden und ihm aufmerksam zuhörten, begannen wieder zu lärmen.

„Welt der Kinder!... Welt der Kinder!...“ schrien sie und begannen hin und her zu hüpfen, zu lachen und Purzelbäume zu schlagen.

„Werden wir denn in dieser Welt spielen dürfen?“ fragte ein Knirps.

„Natürlich“, lächelte Armen.

„Was wir wollen?“

„Was ihr wollt!“       

„Juhu!“ schrien die Kinder von hier und da. „Wir dürfen spielen!... Wir dürfen spielen!...“

„Wie heißt du?“ fragte ein Mädchen blinzelnd.

„Armen.“

„Armen wird uns eine Welt der Kinder bauen!... Armen wird uns eine Welt der Kinder bauen!...“ Sie ließ Armen und begann in die Hände zu klatschen und im Kreis zu laufen. Die Schar der Kinder folgte ihr schreiend, und es entstand ein jubelnder Kinderreigen...

„Und ich heiße Martha“, sagte die pubertäre Schöne, sie errötete plötzlich und senkte den Blick. „Ata ist ein Säufer, er wohnt ganz allein in der Werkstatt und, soweit ich weiß, hat er kein Bett, sondern er schläft in Spänen; den ganzen Tag ist er betrunken und niemand weiß, was er macht. Noch hat ihn niemand bei der Arbeit gesehen, aber er angelt sehr gern und jeden Tag kommt er am frühen Morgen betrunken, singend und wackelnd, die Angel in der Hand, vom Fluss zurück“, erzählte fleißig Martha. „Er ist nicht von hier, sondern aus einem fernen Ort gekommen. Alle haben Angst vor ihm, weil er sehr grausam ist; man sagt, einen Menschen zu töten, ist für ihn etwa das Gleiche wie ein Schaf zu schlachten...“

„Woher weißt du denn das?“ fragte Armen etwas beunruhigt.

„Nun, das wissen hier alle“, erwiderte Martha, sah Armen an und lächelte geziert.

Armen verstand, dass es Martha gefiel, sich mit ihm zu unterhalten, und sie all das erzählte, um das Gespräch fortzusetzen.

„Du musst vorsichtig sein, Armen“, fuhr Martha mit inniger Vertraulichkeit fort und richtete ihre schönen traurigen Augen an die Armens. „Komm, ich zeige dir Atas Werkstatt...“

„Ich finde sie schon selbst, Martha“, entgegnete Armen.

 Er verließ Martha und ging zum Gebäude hinüber, von dem ein Teil hinter den Bäumen zum Vorschein kam.

„Ich warte hier!“ kam Marthas Stimme von hinten.

Armen lächelte.

Als er in eine Lichtung, die einem holprigen und unbebauten Acker glich und sich bis zur Straße erstreckte, trat, blieb Armen stehen. Eine kleine verfallene Bude mitten im Müll und in Dornen machte ihn neugierig. Die Ruine erinnerte ihn an sein verfallenes Vaterhaus und sein Herz krampfte sich zusammen. In ihm blitzte der Gedanke auf, dass er diese Ruine wiederaufbauen und darin wohnen könnte. Somit ließe sich das Problem der Unterkunft lösen. Armen war von dieser Idee begeistert. Er überquerte die mit allerlei verdorrten Pflanzen und wildem Gras bewachsene Lichtung, trat unter die Bäume und sah sich bald im leeren Hof eines alten Hauses, wo ein kleiner Brunnen war; das Wasser rieselte eintönig aus einem dünnen verrosteten Eisenrohr in das bemooste Holzbecken und verschwand in dem ungewöhnlich satten Grün. Das Wasser schmeckte nach Rost, aber man konnte es trinken.

Die Tür der Werkstatt war angelehnt. Drinnen war jede Menge rohes Holz, staubige Haufen verschiedener verrosteter Werkzeuge und Rollen verwickelten Metalldrahts. In den Ecken glänzten schwärzlich dichte Spinnweben, deren Fäden von der Decke herabhingen und sich kaum merklich in der Luft wiegten. Es war klar, dass da seit Ewigkeiten nichts gemacht worden war. Armen rief laut, aber niemand gab ihm eine Antwort, seine Stimme verhallte im Halbdunkel. Er ging vorsichtig nach vorn, stieß gegen Kisten, blieb stehen und sah sich um. Plötzlich erreichte ein ersticktes Röcheln von hinten sein Ohr, und er bemerkte im Inneren des Raums eine halboffene Tür. Armen stieß die Tür, aber sie ging nicht auf. Er trat seitlings ein und blieb stehen: Es war eine kleine Kammer, die wie eine Mönchszelle aussah, darin sah er zwei Haufen alter gestampfter Späne, dazwischen lag im gestreiften Licht, das aus einem kleinen mit zwei Brettern kreuzweise vernagelten Fenster fiel, auf dem Rücken und schnarchte bedrohlich ein wuchtiger Mann. Er stank fürchterlich nach einem versauerten Getränk, der Gestank passte irgendwie zu seinem schrecklichen Gesicht eines stumpfsinnigen Metzgers, das geschwollen und mit unzähligen Narben und Schürfwunden bedeckt war, die in einem schütteren und struppigen Bart verschwanden. Der Mann hatte einen völlig kahlen Schädel, die Nase war groß und platt, die geschwollenen Augen verschwanden unter den dichten schwarzen Brauen, auf der offenen Brust war eine große gräuliche Tätowierung zu sehen: Ein blutverschmierter Wolf hatte seine scharfen Zähne in den Leib eines flügellahmen Vogels gestoßen und starrte bedrohlich in die Ferne... Ringsum lagen überall leere Flaschen, Brotkrusten und abgenagte Fischköpfe, schmutzige Papierfetzen und alte dreckige Klamotten. Armen schaute mit Widerwillen einige Sekunden lang auf das Gesicht dieses Mannes und hatte das Gefühl, dass es kein Mensch war, sondern ein namenloses Geschöpf, aus dessen halboffenem Mund der verseuchte Atem des Todes wehte. Plötzlich bewegte der Mann seine riesige Pranke, um eine große Fliege zu verscheuchen, die sich ihm auf die Lippen setzen wollte. Armen näherte sich ihm und schüttelte kräftig seine Schulter.

„Wach auf! Skorp hat mich zu dir geschickt!“

Der Mann öffnete seine trüben Augen und schaute unsinnig auf Armen, dann drehte er sich, unzufrieden schnaufend, auf die andere Seite. Sein heimtückisch lauernder und dunkler Blick konnte Einem Angst einjagen.

„Wach auf!“ wiederholte Armen. „Skorp hat gesagt, dass du mir helfen sollst.“

„Nimm, was du brauchst!“ brummte der Mann, ohne die Augen zu öffnen.

„Ata?...“

Der Mann verzog im Schlaf sein Gesicht. Kurz danach vernahm Armen sein beängstigendes Schnarchen.

 

II

  

Armen nahm einige notwendige Werkzeuge mit, kam zurück zur Ruine und ging eifrig an die Arbeit. Er begann die Ruine vom Müllhaufen zu reinigen, der aus Unkraut, Dornen und übereinandergeworfenen Holzstücken bestand. Die Kinder liefen freudig herbei und begannen ihm zu helfen. Ihre aufrichtige Hilfsbereitschaft war rührend. Armen hieß sie sofort fortzugehen, denn sie konnten sich verletzen. Die Kinder achteten nicht auf seine Aufforderung; begeistert wühlten sie im Müll, entfernten die kleinen Holzstückchen, wobei sie manchmal einander vorwarfen, die anderen zu stören. Mit Drohungen auf sie einredend, gelang es Martha schließlich, sie wegzubringen. Bald waren die Kinder wieder vom Spiel hingerissen und vergaßen Armen, Martha aber kam zurück und begann mit einem echten Frauenlächeln Armens Handlungen zu folgen, wobei sie von Zeit zu Zeit altkluge Ratschläge gab.

Die Anwesenheit dieses pubertären Mädchens war Armen angenehm. Er arbeitete und spürte in seinen Bewegungen die Wärme des Blickes von Martha. Mit ihrer sanften Bruststimme erzählte Martha von ihrer Familie. Sie sagte, dass sich ihr Vater während der Arbeit in dem Steinbruch den Rücken gebrochen habe und jetzt ans Bett gefesselt sei; er sei sehr traurig, nachts vergieße er manchmal Tränen; sie lese ihm ab und zu lustige Geschichten vor, aber er scheine nicht zuzuhören, er schaue nur unentwegt auf die Decke und flüstere immer wieder „Bald, bald...“ und schweige; die Mutter sei ständig nervös und düster, denn sie arbeite Tag und Nacht, aber könne nicht alles schaffen; sie selbst habe noch vier Geschwister und sei die Älteste; sie liebe die Musik sehr, aber keine Gedichte und träume davon, Lehrerin zu werden; einst werde sich ihr staubiges Dorf in eine große und helle Stadt verwandeln und sie werde Lehrerin in einer großen und hellen Schule sein; vielleicht werde man nach der „Welt der Kinder“ eine neue Schule bauen, ihr Herz ahne das...

Martha schwieg eine Weile, von eigenen Gedanken mitgerissen, dann fragte sie Armen nach dem neuen Gesetz.

 „Ich habe, offen gestanden, keine Ahnung davon“, antwortete Armen. „Ich habe hier zum ersten Mal davon gehört.“

Martha trat von einem Fuß auf den anderen, aber sie sagte nichts. Armen war bewegt von Marthas traurigem Blick.

„Bist du traurig?“ fragte Armen, indem er sich auf den Spaten stützte.

„Nein... Warum?“ Martha war überrascht. „Ich denke einfach...“

„Woran denkst du?“

„Einfach so.“ Martha senkte verlegen den Kopf. „Ich denke einfach...“

„Hm...“ Armen musste plötzlich daran denken, dass es Martha nicht gelingen würde, ihren Traum zu verwirklichen...

„Eis!... Eis!... Leckeres Eis!...“ kam ein schriller Ruf plötzlich aus der Ferne.

An der Ecke der letzten Straße stand ein kleiner weißer Wagen und ein Mann von mittlerem Wuchs schrie gegen alle vier Seiten.

„Eis!... Eis!...“ riefen die Kinder fröhlich, sie brachen ihr Spiel ab und stürzten kopfüber zu dem Mann. Bei dem Wagen angelangt, reichten sie ihre Hände dem Eisverkäufer; dieser klappte geschwind den Deckel der Eiskiste zu und begann den Kopf ablehnend zu schütteln. Eines der Kinder schrie etwas, lief zurück und stand nun außer Atem vor Armen.

„Armen, kaufst du uns Eis?“ bat es und musste dabei schlucken.

„Keinesfalls!“ sagte Martha. „Geht nach Haus, holt Geld, kauft selber!“

Das Kind ließ den Kopf hängen und blieb mäuschenstill.

„Das ist hier mein ganzes Geld.“ Armen zeigte dem Kind sein Geld. „Ich kann euch nur so viel geben, von dem Rest muss ich leben.“ Armen reichte ein Drittel seines Geldes dem Kind. „Macht so, dass jeder etwas bekommt!“

„Ja“, versicherte das Kind und lief, fröhlich hüpfend, fort.

„Danke!“ sagte Martha. „Ich muss zu den Kindern, sonst prügeln sie sich.“

Armen fuhr fort, die Ruine in Ordnung zu bringen. Zu seinem größten Erstaunen fand er unter dem Müll so viel Baustoff, dass man damit die Ruine ganz wiederaufbauen könnte.

Die Nachmittagssonne brannte beißend. Armen badete im Schweiß. Er hatte das Gefühl, in einem Dampfkessel zu kochen. Von Staub und Asche war sein Gesicht gänzlich nassdreckig geworden und juckte so, dass er nicht imstande war, weiter zu arbeiten. Er musste sich waschen. Armen suchte mit den Augen und bemerkte unter einem Baum einen verbogenen verrosteten Eimer. Als er näher kam, entdeckte er nicht weit in einem Gebüsch auch einen alten zerquetschten Trog. Sie schienen gerade für ihn da zu sein. Der Fund freute ihn so, dass es ihm sogar durch den Sinn ging, dass es mit seinen endlosen Fehlschlägen nun endlich vorbei sei und eine namenlose Hand ihm liebevoll den Weg zum Erfolg öffne. Den Eimer und danach den Trog steckte er auf das Ende eines Balkens, bog sie mit dem Hammer sorgfältig gerade und lächelte: So kommt sein Haushalt nach und nach zustande. Er nahm den Eimer und ging zum Brunnen.

Der Brunnen stand im Schatten eines hohen Baumes mit breiter Krone, in der öden Stille war nur die dumpfe Stimme des Wassers zu hören, sie schien aus dem Erdinneren zu kommen. Er zog das schmutzige Hemd aus und wusch sich sorgfältig, dann stellte er den Eimer unters Wasser und setzte sich an den Rand des Holzbeckens. Der eintönige Klang des Wassers machte ihn schläfrig und er schlief ein.

Im Traum sah er Kinder auf einem grünen Feld eines sonnigen Tals spielen. Sie alle tragen makellos weiße Kleider und haben einander an den Händen gefasst, drehen sich im Kreis und singen. In der Mitte des Kreises steht Martha in stiller Erwartung. Sie trägt einen glänzend schwarzen Rock und einen welken Kranz auf dem Kopf, die langen Locken, die darunter hervorquellen, flattern im Wind. Plötzlich hört er einen fernen Ruf, der in der Sonne still widerhallt. Martha hebt den Kopf und sieht ihn flehend an und er winkt ihr mit der Hand. Dann dreht sich Martha um, durchbricht die Kette der Kinder und geht langsam mit sanften luftigen Schritten auf die Stimme zu, die zum zweiten Mal erschallt. Die Kinder halten inne und sehen ihr nach, dann spielen sie weiter. Martha erreicht den Feldrand und verschwindet in einer schwarzen Kluft. Die Kinder hören auf, zu spielen und folgen ihr, eines nach dem anderen. Die Stimme ertönt zum dritten Mal und auf das verlassene Feld fällt ein großer Schatten, der Schatten der Stimme...

„Das Wasser fließt über“, sprach eine feuchtflaumige Frauenstimme über seinem Kopf.

Armen öffnete die Augen, vor ihm stand eine robuste junge Frau mit einem runden Gesicht.

Armen griff sofort, schuldbewusst lächelnd, nach dem vollen Eimer.

Die Frau zuckte und stellte, die Stirn runzelnd, den leeren Eimer unters Wasser.

„Jetzt hast du dein Hemd vergessen“, hörte Armen von hinten die Stimme der Frau wieder, als er schon den Rand des Hains erreicht hatte.

Armen sah sich verlegen um. Die Frau lachte kurz, sie hatte ein gutmütiges Lachen. Als Armen aus ihrer Hand sein Hemd nahm, bemerkte er, dass die Frau ein wenig schielte, es war, als habe sie gerade geweint...

„Wirst du heute mit deinem Palastbau fertig?“ fragte die Frau mit einem kindlich schlichten Lächeln.

„Ich glaube, schon“, antwortete Armen.

„Dann werden wir Nachbarn“, sagte die Frau lebhaft, „freilich wenn du morgen nicht wieder verschwindest“. Sie sah ihn schelmisch an.

Armen lächelte fragend.

„Du bist nicht der erste und wirst nicht der letzte sein“, meinte die Frau überzeugt, mit einer etwas groben Offenheit. „Man baut schon seit einer Ewigkeit an dieser „Welt der Kinder“, aber man hat noch nicht einmal den Grund ausgehoben; man kommt, streift ein paar Tage umher und verschwindet genau so schnell, wie man gekommen ist...“

„Wieso?“ wunderte sich Armen.

„Ich weiß nicht“, zuckte die Frau mit den Achseln. „Das ist, was ich gesehen habe.“

„Aber Skorp hat angeordnet, heute den Grund auszuheben.“

„Mag sein“, wich die Frau aus.

Armen wurde von einer Unruhe gepackt.

„Ich wohne hier“. Die Frau drehte sich um und zeigte zur Straße, wo sich ein düsteres unförmiges Gebäude erhob, dessen Ziegelturm zwischen den Bäumen in die Höhe ragte.

„In dem Turm da?“

„Nein“, lachte die Frau. „Ich zeig ’s dir einmal bei Gelegenheit... Wie heißt du?“

„Armen.“

„Und ich heiße Mascha.“ Die Frau zuckte zusammen und sah sich wie plötzlich erwacht um. „Solltest du warmes Wasser brauchen oder deine Wäsche waschen wollen oder sonst was, dann helfe ich dir gern“, fügte sie die Stimme senkend und etwas verstohlen hinzu und lächelte ihn an.

„Danke.“

Mascha machte einen zwielichtigen Eindruck auf Armen. Sie erschien ihm bald als eine erfahrene heimtückische Frau, bald als ein gutherziges Geschöpf mit Kindersinn. Als er zurück war, stellte Armen den Eimer im Schatten eines Baumes unter, schüttelte die Hand und machte sich wieder an sein Werk. Das Feld der Kinder war jetzt leer, auch Martha war nicht zu sehen, sie war wohl nach Haus gegangen.

„He Junge, was machst du da?“ vernahm er eine heisere Stimme von der Straße her.

Armen sah hin: Ein Mann, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, der einige Kälber vor sich zur Steppe trieb, war stehen geblieben und sah ihn interessiert an.

„Hier soll die „Welt der Kinder“ entstehen“, erklärte Armen.

„Das ist gut“, winkte der Mann billigend mit dem Kopf. „Ausgezeichnet!“ Er steckte sich die Rute unter den Arm und folgte den Kälbern, die schon weit vorne faul die Straße entlang zogen.

Armen nahm den Trog, wusch das Hemd und breitete es auf dem Gras zum Trocknen aus. Nun war der Augenblick da, wo die Bude gebaut werden sollte. Zunächst baute er den Fußboden der Bude, damit die Säulen auf festem Grunde stünden. Dann verband er die Enden der Balken durch vier Bretter horizontal miteinander und das Gerüst war fertig. Kreuzweise festigte er auch die oberen und unteren Enden der einander gegenüber liegenden Säulen und das Häuschen begann eine Gestalt anzunehmen. Armen war von seiner Arbeit so hingerissen, dass er alles vergaß: die Umgebung, die Menschen, die Welt, sich selbst. Er hatte sogar die Arbeit selbst vergessen und wusste nicht, wo und was er tat. Er war wie entrückt und es war ihm, als ob es nicht er, sondern ein Unbekannter sei, der sich da mühe, er aber folge nur dessen Bewegungen. Er murmelte das Lieblingslied seines Vaters vor sich hin und es gab nur dieses Lied:

 

„Es lag der Himmel in Wehen,

Es lag die Erde in Wehen,

In Wehen lag auch das Meer des Lichts;

Und im Meer lag das rote Schilf in Wehen:

Es stieg Rauch aus der Schilfröhre empor,

Es stiegen Flammen aus der Schilfröhre empor,

Und aus den Flammen lief ein blonder Jüngling heraus;

Er hatte Haare aus Feuer,

Hatte einen Bart aus Flammen,

Und seine Augen waren strahlende Sonnen...“*

 

Als drei Wände und das Dach des Häuschens fertig waren, ertappte sich Armen dabei, dass er in den Gedanken sein Vaterhaus renovierte. Er lächelte, sprang vom Dach hinunter, setzte sich vor das Häuschen und besah es mit prüfenden Blicken: Nicht schlecht. Er hatte nur noch die vierte Wand zu bauen und die Tür einzusetzen, aber es war kein Baustoff mehr da. Einen Augenblick lang dachte er daran, das Fehlende aus der Werkstatt zu holen, aber aus einem unbekannten Grund widerstrebte es ihm, Ata bitten zu müssen; er wollte nicht, dass ein Fremder in sein Werk Einsicht erlangte. Er stand auf, putzte den Platz rund um das Häuschen und baute einen Zaun aus den verwickelten Knäueln verrosteten Metalldrahts, die er am Straßenrand auffand, und den Resten der Balken; nun war ein runder Hof entstanden, der sich sehen lassen konnte: Das Haus war geschützt. Als er aus Holzbruchstücken auch noch eine Zauntür bastelte, die auf die Straße ging, war er sogar stolz: Er war der Herr dieses Hauses...

Plötzlich sauste etwas durch die Luft über ihm und es gab einen starken Knall. Armen, der gebeugt an dem Riegel der Zauntür hantierte, stutzte. Es war ein Stein mit scharfen Rändern, der mit Wucht gegen die Wand des Häuschens schlug, schräg zur Straße absprang und in den Staub rollte. Ob es die Kinder waren, die da Unfug trieben? Aber das Spielfeld der Kinder war still und leer.

„He du!“ hörte er eine heisere Stimme von hinten. „Guck nicht wie ein Wurm hin und her, hast Schwein gehabt!“

Armen drehte sich um. Eine wuchtige und hässliche Gestalt trat hinter den Bäumen hervor und wankte bedrohlich auf ihn zu. Es war Ata.

 „Hast wohl Schiss gekriegt, oder...?“ grinste Ata. „Was fällt dir ein, mein Werkzeug zu nehmen, ohne mich zu fragen?! Sieh mal an! Da geht ihm allerlei durch den Kopf, da baut er sich ein Haus!“ Bei Armen angelangt, blieb Ata stehen und maß ihn mit den Augen, die Brust vorgewölbt, von Kopf bis Fuß.

„Ich hab dich doch gefragt“, erklärte Armen geduldig und schaute ihm dabei in die trüben gelbroten Augen, die geplatzten faulen Eiern glichen. „Skorp hat mir gesagt, dass du mir helfen sollst.“

„Hier bin ich Herr!“ schrie Ata, indem er sein besoffenes Gesicht wütend dem von Armen näherte und dieser roch auf einmal seinen Gestank. „Weich nicht aus! Du sollst mir die Füße lecken, wenn ich dir erlauben soll, diesen Boden zu betreten! Sonst zertrete ich dich wie einen Wurm wie schon alle anderen!“ Schrecklich schnaufend stieß er Armen grob mit seiner riesigen Faust.

„Geh fort!“ brüllte Armen, dem der Atem stockte. Mit den Lippen schmatzend drehte er sich um und setzte, zur Zauntür gebeugt, mit zitternden Händen seine Arbeit fort. Seine Hände zitterten vor Wut.

„Du sagst es mir, du? Ich zeig’s dir gleich!“ Ata holte zum Schlag aus, aber winkte plötzlich ab, lachte unerwartet und ging, den kahlen Kopf schüttelnd. Es war das dunkle und befremdliche Lachen eines Neuropaten.

Der Zwischenfall hatte Armens Inneres durchwühlt und, obwohl er weiter arbeitete, verstand er nicht mehr, was er tat. Er kochte vor Schmerz und Wut, die er zurückzuhalten suchte. Er fühlte, dass es am leichtesten wäre, Ata eine passende Lektion zu erteilen, doch das wäre eben das, was sich Ata gewünscht hätte;  in diesem Fall würde er seine Arbeit verlieren, kaum dass er sie richtig gefunden hätte… Plötzlich lief es ihm eiskalt über den Rücken, er drehte sich heftig um und sah Ata, der mit beiden Händen das lange Brecheisen hochhielt. Armen erstarrte und sah ihn verblüfft an. Ata hatte seine wahnsinnigen Augen mit einem tierischen Hass auf Armens Gesicht geheftet und dieser begriff, dass das schwere Eisen bei seiner geringsten Bewegung herunterkommen und seinen Kopf zerschmettern würde... Einige Sekunden lang starrte er Ata unerschrocken an, der plötzlich sein Gesicht verzog, das Brecheisen wegwarf und sich rasch entfernte, dabei schrie er etwas Unverständliches und stieß wütende Flüche aus. Armen brach zu Boden zusammen und lehnte sich an den Pfahl der Zauntür.

„Wie gut, dass die Kinder nicht da waren und nichts gesehen haben…!“ flüsterte er vor sich hin, als er wieder zu sich kam.

 

 

III

 

Der Mann, der, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Kälber vor sich hintrieb, kam aus der Steppe zurück, die Rute unter dem Arm, genau so, wie er gegangen war. Die satten Kälber zogen langsam wiegend den Heimweg entlang. Ihre langen und schmalen Schatten zogen sich in die entgegengesetzte Richtung, als wollten sie die Fesseln von ihren Füßen abstreifen und wieder in die Steppe fliehen. Armen, der die wiegenden Schatten mit den Augen aufmerksam verfolgte, lächelte und begriff plötzlich, dass es schon auf den Abend zuging. Er besann sich darauf, dass er Hunger hatte und seit der vergangenen Nacht nichts gegessen hatte. Es war, als  sei all das, was er im Laufe des ganzen Tages erlebt hatte, die Nahrung, die er zu sich genommen hatte: süß, scharf, bitter, fad, salzig...

Der Mann sagte, dass die einzige Bäckerei an der Großen Kreuzung liege und er eilen solle, da die Bäckerei bald schließen würde. Armen beeilte sich.

Am Rand der Straße tauchte der Briefbote auf seinem Fahrrad auf, der das Rad auf ebenen Stellen am Straßenrand zu fahren bemüht war, aber dieses schien ihm zum Trotz eigenwillig auf die holprige Straßenmitte zu wollen, schließlich glitt das Hinterrad auf einer unebenen Stelle aus und der Briefbote kippte in eine vertrocknete Pfütze. Die Räder drehten sich in der Luft sinnlos weiter und Armen war von einem nicht greifbaren starren Gefühl der Ungewissheit befallen; er spürte dunkel, dass er auf eine äußerst wichtige Nachricht wartete, die schon unterwegs war, in der Luft, im Abendlicht oder auf dem verdunkelten Pfad des Waldes...

Ein Hund bellte kurz. Auf der linken Seite der Straße erhob sich ein recht großes Haus mit sorgfältig frisch gestrichenen Fenstern und Wänden, das einen schönen gezackten Zaun und einen kleinen, aber gepflegten Garten besaß; selbst das geschorene Laub war von einem so dunklen Grün, dass es ebenfalls wie gestrichen wirkte. An dem Zaun hockte ein kleiner Knabe auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Zeitung und brachte einem zottigen Hündchen, das ungefähr in seinem Alter stand, das Lesen bei.

„A-a-a...“ sagte er, indem er mit dem Finger auf die Schlagzeilen zeigte, dabei schaute er streng auf das Hündchen, das mal ihn und mal die Zeitung ansah, mit dem Schwänzchen wedelnd. „B-b-b...“

Etwas weiter saß an dem Zaun angelehnt ein Junge im Schulalter und drehte mit einer etwas gleichgültigen Konzentration an dem Signalknopf eines alten Radioempfängers. Plötzlich ging das Tor des Hauses auf und ein großer breitschultriger Polizist in einem makellos weißen Diensthemd trat heraus und warf, ohne sich umzudrehen, bedrohlich und grimmig:

„Gut, gut, aber dass sich das nicht wiederholt!“

Derjenige, dem diese Worte galten, war wahrscheinlich der Hausbesitzer, ein wuchtiger dickbäuchiger Mann mit einem roten Gesicht und tief liegenden Augen.

„Abgemacht!“ sagte der Mann mit einer heiseren Stimme, in der versteckter Spott schwang; er sah eine Weile dem Polizisten nach, rückte sich dann den Gürtel zurecht, grinste und trat ins Haus.

Ein Rauchgeruch kitzelte ihm die Nasenlöcher. Einige Häuser weiter stieg die Wand einer kleinen Hütte entlang eine dicke Rauchsäule erstaunlich gerade in den Himmel; vor dem brennenden Haufen schmutziger und zerknitterter Papierfetzen und trockener Blätter kniete ein schmächtiges Kind mit großen Augen und blies konzentriert mit seiner ganzen Kraft gegen das Feuer, aber es konnte einem nicht entgehen, dass seine Augen nicht wussten, was sein Mund tat, als schaue er, ohne zu sehen, und blase er, ohne es zu fühlen. Armens Augen brannten plötzlich und er hatte auf einmal den Eindruck, dass dieses Bild unermesslich weit sei, wie in der Tiefe eines bodenlosen Nebels, und im nächsten Augenblick blieb er wie gebannt auf der Stelle stehen: Der Junge, der an dem Zaun lehnte, ließ vom Radioempfänger ab, sprang auf, rannte zur Rauchsäule und schlug im Rennen mit dem Fuß mit voller Wucht auf den Kopf des Kindes, kehrte sofort um, rannte an Armen vorbei, sprang mit erstaunlicher Flinkheit über den Zaun und verschwand unter den Bäumen... Alles geschah so schnell, dass bevor Armen sich besann und das Feuer erreichte, eine alte Frau mit einem schrillen Schrei aus der Hütte herausgestürzt war und bei dem Kind, das in der Asche zappelte, angelangt, es in die Arme genommen hatte und geschwind ins Haus getreten war; Armen konnte nur noch den Rücken des Kindes und einen glimmenden Zeitungsfetzen, der unter dem Arm des Kindes klemmte, sehen und den Knall der Tür hören. Armen stand verblüfft vor dem Feuer und konnte nicht verstehen, was da passiert war; diese stillschweigende, gleichsam geheime Vereinbarung, mit der sich all das vollzogen hatte, kam ihm seltsam vor. Er senkte den Kopf und begann sein Kinn gegen die Brust zu drücken, immer wieder gegen die Brust zu drücken und mit seiner Gebärde glich er einem Pferd oder einem Ochsen...

„Sie haben wohl gesehen, wie schonungslos el zugeschlagen hat“, vernahm er eine gleichsam pockennarbige Stimme. „Ein Lohling bleibt ein Lohling“, klagte die Stimme. „Ich glüße Sie.“

Es war der Briefbote. Ein Mann mit femininen Gesichtszügen, einem runden rosigen Gesicht; der Hals wuchs gleichsam aus dem Bauch; der Mann  hatte sonderbare Augenbrauen, die eine war bogenförmig, die andere gerade; kurzes und dickes Haar, das über der riesigen Stirn keilartig vorsprang, als habe man seinen Kopf überdacht. Bei Armen angekommen, bremste er und von der Bewegung, mit der er vom Fahrrad stieg, indem er sich mit dem ganzen Körper schüttelte, schloss Armen darauf, dass es kein Mann war, sondern eine Frau und sein Blick fiel unwillkürlich auf den Busen der Frau. Die Frau errötete unerwartet.

„Ich habe fül Sie... Ich habe Ihnen...“ Die Briefträgerin schob ihre Tasche von der Seite auf den Bauch und begann darin zu wühlen, die Tasche war voll von allerlei Briefen und Papieren.

Armen wunderte sich, er konnte nicht verstehen, was diese tun wollte, aber im nächsten Augenblick lächelte er: Es war ihre feierliche Anrede, die ihm das Ohr zerrissen hatte, und der Gedanke, dass er auch ein „Sie“ und insbesondere ein „Ihnen“ sein könnte, schmeichelte ihm.

„Da, ich hab ’s!“ sagte die Briefträgerin. „Hiel fül Sie...“ Und sie reichte Armen ein Papier.

Es war eine Vorladung vor Gericht und Armen erblasste. Einen Augenblick glaubte er, dass er vor Gericht gezogen wird, und es überlief ihn kalt. Er wich unwillkürlich zurück. Bei einer aufmerksamen Durchsicht des Papiers vermochte er den Namen des Adressaten zu entziffern: Adam.

„Sie irren“, sagte Armen trocken. „Ich bin nicht Adam.“ Er atmete erleichtert auf. „Ich bin zum ersten Mal hier.“

Die Briefträgerin wunderte sich und warf einen schrägen prüfenden Blick auf ihn, dann lächelte sie unschuldig, als hätte sie ihn wiedererkannt.

„Stimmt, stimmt... Sie sind wohl del Almeniel, del die „Welt del Kindel“ bauen soll. Sie sind Almen, nicht wahl?“ fuhr sie überzeugt fort. „Velzeihen Sie...“

Armen war überrascht..

„Ein Mädchen hat ’s mil davon elzählt, die Maltha“, erklärte die Briefträgerin mit einem gezierten Lächeln, in ihren Augen blitzte plötzlich die unersättliche Neugier einer Frau auf. „Ich will es Ihnen sagen, die Menschen sind vellückt gewolden, geben einandel keine Luh.“ Sie rückte ihren Büstenhalter durch das Kleid zurecht. „Diesel Adam, zum Beispiel, hat seine Flau vellassen, ist zu seinel Geliebten gegangen, dann ist el eines Nachts heimlich zulückgekommen, hat die Tül seines eigenen Hauses eingeschlagen, ist eingetleten und hat seine eigene Flau velgewaltigt, können Sie sich das volstellen?“ erzählte sie vergnügt mit angespannten Augen, als sei alles, wovon sie sprach, vor ihren Augen geschehen.

Armen trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, er wollte sich verabschieden, aber dann fühlte er plötzlich, dass sein Rücken angenehm warm wurde und ihm das Gelispel dieser Frau gefiel, das in einer merkwürdigen Weise die Briefträgerin verschönte und ihrer nicht sonderlich frauenhaften Gestalt einen eigenartigen Reiz verlieh. Armen dachte, dass es keine unvollkommenen Frauen gibt, eine Frau ist immer ganz Frau...

„Wissen Sie“, sagte die Briefträgerin mit einer dünnen wehmütigen Stimme, den Kopf senkend, „ich wundele mich, offen gestanden, übel die Eheflauen; die Eheflauen sind schuld, meine Muttel sagt immel, dass die Eheflauen immer die Schuld haben... Abel mil...“ Sie lächelte traurig und irgendwie fern. „Abel mil...“ Sie schluckte. „Oh, Sie blennen!“ schrie sie plötzlich, stürzte auf Armen zu und zog ihn am Ärmel, das Fahrrad knallte auf den Boden; Armen drehte sich um, der Gummiabsatz seines Schuhs rauchte; er hatte vergessen, dass er beim Feuer stand, genau dort, wo jenes Kind umgefallen war, und einen Augenblick lang empfand er lebhaft den schrecklichen Schmerz vom Schlag, der dem Kind versetzt war. Sein Blick fiel auf die Briefträgerin, die mit einem gierigen Blick ihn ansah, und auf einmal packte ihn ein unwiderstehlicher Wunsch, die Briefträgerin in die Arme zu nehmen und mit ihr zu fliehen, ganz gleich wohin, aber im selben Augenblick leuchtete das Gesicht seiner Mutter vor seinen Augen auf und er stutzte.

„Man sollte der Flau helfen und nicht stutzen“, vernahm er die gekränkte und unzufriedene Stimme der Briefträgerin. Sie hob das Fahrrad, rückte den Spiegel zurecht und stieg auf. „So ist das!“ sagte sie düster und fuhr los.

Armen erwachte aus seinen Gedanken.

„In jedem Fall...“ Schon ziemlich weit abgefahren, fuhr sie langsamer, drehte sich halb auf dem Sattel und schrie ihm über die Schulter zu: „Meinetwegen können wil uns am Abend auf dem Tanzboden tleffen.“ Sie trat in die Pedale und lachte laut... 

Armen beschleunigte seine Schritte. An der Ecke der Straße, die das Niedere Kitak mit dem Oberen Kitak verband, kamen zwei gleichartige Gestalten Armen entgegen, sie kamen ihm bekannt vor. Als sie näher kamen, erkannte sie Armen sogleich wieder: Es waren die stummen Brüder, denen er eines Nachts auf dem menschenleeren Bahnhof irgendeiner kleinen Siedlung begegnet war. Er hatte damals an der Wand gesessen und auf die Morgendämmerung gewartet, als plötzlich aus dem Dunkel diese beiden stummen Gebrüder mit blutverschmierten Gesichtern auftauchten. Mühsam schleppten sie sich zum Bahnhof und brachen mit einem dumpfen Stöhnen auf den Boden zusammen. Er hatte sie zuerst für Säufer gehalten, aber kurz danach folgte ihnen eine alte Frau barfüßig und mit losen Haaren. Mit verworrenen Worten und Flüchen erzählte sie, dass die beiden ihre Mieter, stumm und „von Geburt an Waisen“ seien und zwölf Monate lang Tag und Nacht auf dem Bau des Kulturpalastes gearbeitet hätten; als indes die Zahlung des Arbeitslohnes fällig geworden sei, habe sich der Bauleiter geweigert, es zu zahlen, und einfach angeordnet, die beiden sollten ihm aus den Augen gehen, sonst würden auch die anderen nichts bekommen. Als die Brüder sich hartnäckig geweigert hätten, mit leeren Händen zu gehen und ihren Lohn verlangt hätten, seien die anderen über sie hergefallen und sie grausam verprügelt mit den Worten: „Ihr seid nicht besser als das Vieh, sollten wir euretwegen um unseren Lohn kommen?...“ Es war ihm gelungen, mit der Hilfe der Alten die Stummen wieder zur Besinnung zu bringen. Im nahen Bach hatte er ihnen die Gesichter gewaschen und die Kleider von dem mit Blut vermischten Dreck gesäubert und, als er sie neben sich gesetzt hatte und die Alte weggegangen war, hatten sie ihn angesehen und gelächelt. Dann waren eine tiefe und stumme Nacht um ihn herum, zwei verprügelte stumme Menschen neben ihm, still war auch er gewesen. Es war eine ferne und tiefe Vertrautheit in ihrer Gegenwart gewesen und er hatte gespürt, dass die einzige verständliche Sprache des Lebens diese große Stummheit war: immerdar lebendig für den uferlosen nächtlichen Himmel, die in der Finsternis verlorene Erde, die Welt im Schlaf, die fortgegangene Alte und für ihn selbst...

Armens ansichtig geworden, stieß der Kleinere der Stummen unbestimmte Laute der Freude aus, lief auf ihn zu und umarmte ihn herzlich, während der Ältere lediglich leicht lächelte und, indem er seine Reisetasche zurechtrückte, zurückhaltend würdevoll grüßte und dann einen scharfen und starren, tiefen und unbeweglichen Blick nach vorn richtete, in diesem Blick wohnte eine instinktive kalte und leere Traurigkeit. Er trug ein schwarzes netzartiges Hemd, unter dem sich die mächtigen Bögen seiner Muskeln abzeichneten, die eine beneidenswerte gesunde und lebensspendende Kraft ausstrahlten.

„Ihr geht? Es ist wieder nichts geworden?“ fragte Armen, mit der Hand winkend, und berührte den Daumen mit dem Zeigefinger, um zu demonstrieren, was er sagen wollte.

Der Kleinere tat eine Bewegung, als schüttelte er die Schulter, dann hielt er die linke Hand in der Luft hoch und machte mit den Fingern der Rechten mit einer verblüffenden Geschicklichkeit Gesten Schreibens und Streichens auf dem linken Handteller, dann schlug er kurz auf den Daumen, streckte die Hand heraus und wies auf die Straße oder auf Kitak, vielleicht auf die Welt oder auf den Horizont, auf den Himmel... Armen nickte mit dem Kopf, was „ja, verstanden“ zu bedeuten hatte, dann schaute er auf sein schlicht lächelnde Gesicht und fühlte, dass dessen Verdienst irgendwie darin bestand, dass er genau sein Alter und seine Größe hatte, und klopfte ihm, gerührt, wieder auf die Schulter. Als sie gegangen waren, drehte sich Armen um und sah ihnen nach und wieder einmal musste er die gesunde und heile Schönheit des Älteren bewundern. Armen überquerte die Straße und, als er sich im abendlichen Schatten eines großen Baumes befand, der sich am gegenüberliegenden Straßenrand einsam erhob, fühlte er deutlich, dass diese beiden stummen Gebrüder gleichsam überall waren und nie im Leben verloren gehen würden; er war es selbst, der verloren gehen würde...

 

 

IV

 

Bei der Großen Kreuzung handelte es sich um einen unförmigen Platz, wo sich einerseits das Niedere Kitak und das Obere Kitak und andrerseits der Wald und die Steppe trafen. Im Punkt, wo sie zusammenkamen, befand sich ein großes Rondell, das aller Wahrscheinlichkeit nach für ein Blumenbeet vorgesehen war, aber mit vertrockneten unförmigen Matschklumpen und allerlei Müll – zerbrochene Flaschen, Holzstücke, Papierfetzen, Staub und Sand – gefüllt war. In der Mitte des Rondells erhob sich auf vier dicken Säulen ein gewaltiges viereckiges Schild, ein solches hatte Armen bereits auf dem Weg nach Kitak gesehen. Auch der Text war derselbe: „Das neue Gesetz in die Tat umsetzen“, auch die wellenden Buchstaben und das blaue Basrelief waren die gleichen. Das Schild war von allen Ecken gleich gut zu sehen.

Armen machte sich auf die Suche und kurz vor der Kreuzung fiel ihm in einem kleinen Hof, der etwas abseits von der Straße lag, eine Frau mit langen Haaren, einem mageren knochigen Gesicht und einem öden Blick auf; sie saß unter dem einzigen Baum im Hof und schüttelte den Kopf. Vor ihren Füßen kniete ein drei- oder vierjähriges Kind mit abstehenden Ohren, es hatte die Hände auf die Knie der Mutter gelegt und starrte sie erwartungsvoll an; wahrscheinlich hatte das Kind die Mutter etwas gefragt und diese schüttelte darauf ihren Kopf. Armen hatte das Gefühl, diese Frau sitze seit Ewigkeiten unter dem Baum und schüttle den Kopf. Armen blieb vor ihr stehen und fragte sie nach der Bäckerei, aber in diesem Moment fuhr ein Auto mit einem scharfen Geheul durch die Straße und Armens Stimme ging in diesem Lärm unter. Die Frau schaute überrascht auf, sah aber nur Armens herausgestreckte Hand und in ihr Blick drückte ein tiefes Staunen aus. Armen kam sich plötzlich wie ein Bettler vor, der die Frau um eine Scheibe Brot anbettelte. Er kehrte um und ging rasch fort, während die Frau in derselben Haltung fortfuhr, den Kopf zu schütteln...

Die Hitzewelle schlug gegen Armens Gesicht und erschwerte ihm das Atmen. An der Ecke der Straße, die unmittelbar an der Kreuzung begann, stand an der Terrasse eines kleinen Baus eine betagte Frau gewaltigen Umfangs und tat etwas gesenkten Kopfes. Armen verstand intuitiv, dass es die besagte Bäckerei war und er lief darauf zu. Er erreichte die Treppe in dem Moment, als die Frau den Schlüssel bereits ins gewaltige Schloss eingesteckt hatte und ihn darin sorgfältig drehte.

„Ich brauche Brot“, sagte Armen außer Atem. „Bitte schließen Sie nicht!“ Sein Herz wurde schwach von dem herrlich süßen Duft des Brotes, der ringsum in der Luft lag.

„Geschlossen“, warf die Frau gleichgültig, ohne ihn anzusehen, drehte sich um und steckte den Schlüssel in die Tasche.

Ihre Gebärde hatte etwas Unwiderrufliches und Armen regte sich auf.

„Aber ich...“ begann er und seine Stimme zitterte.

„Kein Aber!“ schnitt ihm die Frau das Wort ab und begann die Treppe herunterzusteigen, wobei sie sich an das Gelände hielt.

Armen wurde verlegen, er beobachtete unwillkürlich, wie diese beleibte Frau unter Erschütterungen der hässlichen Masse ihres Körpers unbeschreiblich langsam die Stufen herunterstieg. Es schien unendlich lange gedauert zu haben, bis sie ihren  Fuß auf den Boden setzte.

„Du kommst zu spät“, sagte die Frau mit einer heiseren Männerstimme und blinzelte genüsslich. „Warum soll ich mir deinetwegen Mühe geben? Um die Tür wieder aufzuschließen, hineinzugehen, dir ein Brot zu geben, dann wieder hinauszugehen und die Tür zuzuschließen, brauche ich so viel Zeit wie für die Hälfte meines Weges nach Hause...“ Sie heftete ihren groben herrischen Blick eine Weile auf Armen, grinste dann, wobei die dicken und schütteren Haare, die ihre Oberlippe umrandeten, erbebten.

Die kristallklare und hieb- und stichfeste Logik dieser Frau erstaunte Armen.

„Kauf in dem ‚Traum’!“ empfahl die Frau teilnahmslos und begann, die Füße schwer schleppend, sich zu entfernen, so langsam, dass man den Eindruck gewann, sie bewege sich nicht fort, sondern wanke auf der Stelle...

Drüben begann das Obere Kitak, das sich merklich von dem Niederen Kitak unterschied. Dort waren die Gebäude groß, gepflegt, irgendwie arrogant und sorgfältig durchdacht, während die einzige Zier auf dieser Seite der schlichte Zeitungskiosk war, der schon geschlossen war. Die Kreuzung dröhnte von Hupen der in alle Richtungen fahrenden verschiedenen Autos, von Zeit zu Zeit tauchten irgendwie unangebracht mit Heu beladene selbstgebaute Bauernfuhrwerke auf, die schwer und müde aus der Steppe zurückkamen. Das Einzige, was das Obere Kitak und das Niedere Kitak gemeinsam hatten, war der allumfassende Staub, der sich gleichermaßen auf die brachliegende Steppe und den üppigen Wald, auf die bescheidenen und arroganten Häuser und auf die Menschen absetzte...

„Was für ein Traum inmitten dieses verdammten Staubs und Drecks?!...“ entgegnete ein langhaariger und rotbärtiger Mann mit einem ironischen Lächeln, er war auf dem Rückweg aus dem Oberen Kitak. „Wenn du suchst, wo du dein Geld verschwenden könntest, dann wäre es viel humaner, es einfach mir zu schenken...“ erlaubte er sich den Scherz und lachte leichthin.

Armen lächelte.

„Du hast wohl Recht, mein Freund“, tat der Mann besorgt. „Träumen lässt sich nur im Wald, wo nachts die wunderschönen Geister zusammenkommen...“

Armen wandte sich ab und ging.

„Halt!“ kam die Stimme des Mannes von hinten, die Stimme hatte sich gleichsam besonnen. „ Der ‚Traum’ befindet sich im Wald... da drüben... es ist nicht weit...“

„Danke.“

„Nach dem neuen Gesetz kostet das auch Geld, selbst das!“ sprach der Mann laut. „Aber nur keine Sorge, einmal sehen wir uns wieder und du bezahlst deine Schuld...“

Armen sah sich um: Den Blick auf den Boden geheftet, streichelte sich der Mann gedankenverloren den Bart, als wenn ihn selbst sein Gedanke überrascht habe und er konzentriert über etwas nachdenke.

Bei dem „Traum“ handelte es sich um ein schönes Nachtlokal, das Bäume umgaben. Das war ein renoviertes altes Schloss mit einem Eingang, den geschnitzte Figuren schmückten. Armen war nie vorher in einem Nachtlokal gewesen und dachte, dass ihn der Pförtner nicht einlassen würde, aber am Eingang stand niemand. Er öffnete vorsichtig die riesige Tür aus Eichenholz, trat ein und blieb stehen. Ein großer Raum mit roten Samtwänden. In der Tiefe befand sich eine runde Bühne mit luftigen durchsichtigen Vorhängen. Die Ecken lagen im Halbdunkel und der Raum schien grenzenlos. Ein langer gemusterter Läufer teilte den Raum in zwei gleich große Abschnitte und bildete so einen schönen Korridor, von dem rechts und links zahlreiche dunkelbraune runde Tische aus Eichenholz mit weichen Stühlen davor standen. Armen machte eingeschüchtert einige Schritte nach vorn, aber er traf niemanden. Das Milieu war so ungewöhnlich und fremd, dass Armen einen Augenblick lang umkehren und fliehen wollte, aber der Hunger, der ihm in den Eingeweiden nagte, zwang ihn, zu bleiben. Er bemerkte einen Stuhl in seiner Nähe, der etwas schräg stand. Er ließ sich behutsam auf den Rand des Stuhles nieder, als wollte er den Stuhl nicht belästigen.

Plötzlich vernahm er einen dumpfen Knall und auf die Bühne trat eine langbeinige Frau, die fast halbnackt war. Das leichte Kleid schien nur mit Mühe an ihren Körper zu bleiben und man hatte den Eindruck, es könne jeden Augenblick herunterfallen und sie ganz entblößen. Die Frau blieb feierlich in der Mitte der Bühne stehen; im starken Licht, das aus einer unbekannten Stelle fiel, leuchteten ihre feuerroten Haare wunderlich auf. Sie verschränkte die Hände, blickte umher und lächelte breit und vielversprechend.

„Werte Gäste“, wandte sie sich mit einem heiteren und zimperlichen Tonfall an das imaginäre Publikum, „leider muss ich Ihnen gleich zu Anfang mitteilen, dass die von Ihnen so sehr verehrte Sängerin Sabi Semyanka wegen einer ungünstigen Konstellation heute nicht auftreten kann, wofür wir Sie um Entschuldigung bitten.“ Die Frau legte eine tiefsinnige Pause ein, blinzelte demonstrativ mit den Augen und fuhr dann noch inniger fort: „Aber wenn Sie erlauben, werde ich Ihr Lieblingslied diesmal an ihrer Stelle singen...“ Die Frau schwieg wieder und, indem sie den Kopf senkte, ließ sie die Blicke des imaginären Publikums auf sich vereinigen. Dann warf sie mit einer heftigen sinnlichen Bewegung des Kopfes die Haare zurück, rundete die Augen und begann, die schmalen Augenbrauen zusammenbringend, zu singen:

 

„Ich sitze am Fluss und grüble;

Ich habe kein Heim...“

 

„Nein, Marie, nein!“ unterbrach sie plötzlich die sehr sachlich-theatralische Stimme eines Mannes, sie kam von den ersten Reihen vor der Bühne. „Ist schon gut, aber nicht ganz; man hat den Eindruck, du freuest dich, dass Sabi etwas zugestoßen sei und sie nicht auftreten könne; versuch, deinen Worten einen wehmütigeren und feierlicheren Klang zu geben und sing das Lied etwas trauriger als sonst und, was am wichtigsten ist, aufrichtiger!... Na gut.“ Der Mann klatschte in die Hände. „Wir fangen noch mal an.“      

„Kann ich eine kurze Pause machen?“ sagte die Frau, von der Bemerkung sichtlich betroffen; ihre Stimme klang jetzt trocken und grob und ganz anders als die Stimme, mit der sie aufgetreten war.

„Du kannst“, sagte die Stimme des Mannes.

Die Frau ging mit nervösen Bewegungen auf den Vorhang zu und verschwand im Hintergrund.

Armen war angenehm überrascht, dass Sarahs Schwester Sabi die hiesige Sängerin war. Dies gab ihm ein gewisses Selbstvertrauen ein. Als er sich auf dem Stuhl bequem machte, fiel ihm die beseelte Stimme ein, mit der Sarah dieses Lied gesungen hatte, und er hatte plötzlich Sehnsucht nach ihr. Einen Moment lang wünschte er sich, dass Sarah neben ihm sitzen würde und sie beiden dem Lied lauschen könnten. Was macht sie wohl jetzt?...

„He du, junger Mann!“ kam plötzlich eine missmutige und beunruhigte Stimme aus der Tiefe des Raums. „Wer hat dir erlaubt, hereinzukommen?“

Armen sah sich verlegen um. Aus dem Halbdunkel eilte ein sorgfältig gekleideter dünner, hoch gewachsener Mann mit einer schönen Krawatte auf ihn zu. Armen stand unwillkürlich auf und stellte den Stuhl zurecht.

„Was willst du?“ fragte der Mann streng und drohend, dabei maß er Armen verächtlich von Kopf bis Fuß. Es war ein geleckter Mann mit einem birnförmigen Kopf, einer breiter Stirn und sorgfältig zurückgekämmten dicken schütteren Haaren; seine großen und stumpfsinnigen Augen besaßen einen befremdlichen feurigen Glanz. Die Kleider waren auffallend zu groß für ihn; es konnte einem nicht entgehen, dass sich unter diesen feinen und teuren Kleidern ein schmächtiger und gebrechlicher Körper verbarg. Dies war es wohl auch, was seiner ganzen Gestalt etwas Krankhaftes vermittelte.

„Man hat mir gesagt, dass ich hier Brot kaufen kann“, sagte Armen.

„Das ist hier keine Bäckerei!“ grinste der Mann mit zusammengepressten Lippen. „Bitte geh hinaus!“

„Ist das hier nicht der ‚Traum’?“ wunderte sich Armen.

„Nein, junger Mann.“ Die Stimme des Mannes klang nun lauter und drohender. „Du irrst dich, das ist nicht der ‚Traum’!“

„Wie heißt denn das hier?“

„Wenn du kein Analphabet bist, dann kannst du ’s lesen... Und nun geh hinaus!“

„Gut. Und wo ist der ‚Traum’?“

„Drüben“, warf der Mann lässig.

Armen zuckte mit den Schultern und ging zur Tür.

„Ben!“ rief jemand aus der Tiefe des Raums. „Womit bist du beschäftigt? Komm, hilf Alk, die Krawatte richtig zu binden! Es ist schon soweit, bald kommen die ersten Gäste...“

Armen ging hinaus und suchte am Eingang nach dem Namenschild des Nachtlokals, aber er konnte nichts finden. Als er zu einer gartenähnlichen schönen blumigen Flur hinunterstieg, der sich vor dem Schloss ausbreitete, sah er über den Baumwipfeln vor dem Hintergrund des abendlichen Himmels ein großes Schild, an dem in Leuchtbuchstaben die „Obere Lichtung“ stand. Der Name kam ihm bekannt vor. Da kamen schon auch die ersten Besucher. Zwei luxuriöse Wagen fuhren hintereinander zum Nachtlokal an und parkten auf dem Platz vor dem Schloss. Die Türen der Wagen öffneten sich, prächtig gekleidete Frauen und Männer stiegen aus, die miteinander gemächlich redend, auf die Tür des Schlosses zugingen und dahinter verschwanden; es war, als wäre das ihr Lebensweg, der immer vom Auto zum Schloss führte…

Es stellte sich heraus, dass sich der „Traum“ im Waldstreifen befand, der an das Niedere Kitak angrenzte. Unter den Bäumen schliefen hier und da zahlreiche Betrunkene, sie lagen wie Steine da, leblos, in dreckigen Klamotten. Nicht weit vom Eingang saßen an der Wand mit dem abgegangenen Stuck ein Mann mit einem mageren und vom Leid geprägten Gesicht und eine schieläugige Frau mit wunden Beinen; sie unterhielten sich ernst und einträchtig miteinander, indem sie die Weinflasche zwischen sich wandern ließen. Als Armen die Tür, an der in hässlichen und verblichenen Buchstaben „Traum“ stand, aufmachte, schaute ihn die Frau mit Neugier an, dann neigte sie sich zum Mann, flüsterte ihm etwas zu und die beiden lachten laut auf...

Drinnen war es stickig schwül und es herrschte der Lärm lauter Unterhaltung, betrunkenen Gelächters, unverständlicher Rufe. Mit ihren unverputzten rauen Wänden und rötlicher niedriger Decke ähnelte die Weinstube einer geräumigen halbdunklen Höhle, mit Dampf und Gerüchen gefüllt. An einfachen Tischen, die ungeordnet dicht nebeneinander standen, saßen kunterbunt gekleidete Männer und Frauen, die unter lebhaften Gesprächen aßen und tranken. Ein Mann unbestimmten Alters, der im aus dem kleinen Fenster schräg fallenden trüben Licht an der Wand saß und schon betrunken war, sang ein melancholisches Lied, ihm hörte aber niemand zu. Eine langhaarige jüngere Frau, deren Rock mit unzähligen kleinen Herzchen gemustert war, war aufgestanden und wollte, ununterbrochen redend, gehen, aber der Mann mit einem Fuchsgesicht, der ihr gegenüber saß, zog immer wieder an ihrem Arm und verschlang zugleich sein Essen. Irgendwo in der Ecke brach auf einmal ein einstimmiges Gelächter aus und man hörte einen Teller zu Boden knallen, der Knall ging in lauter Schimpferei am Nebentisch unter. Ein junges Paar küsste sich gierig, ohne vom Tisch aufzustehen; der Rücken der jungen Frau war fest an die raue Wand gedrückt, aber sie spürte wohl nichts; die geschlossenen Augen und der entrückte Ausdruck ihres erröteten Gesichts zeugten davon, dass sie in der Lust nicht mehr wusste, wo und mit wem sie sei und was sie tue. Bemüht, an die Tische nicht zu stoßen, ging Armen durch den schmalen Korridor auf die nur spärlich beleuchtete erhöhte Theke zu, aber enttäuscht musste er feststellen, da