SEVAK ARAMAZD, ARMEN, Roman, 2005
Zweiter Teil, Kapitel 3
I
Es schien Armen, ein klebriges Gefühl bleibe wie eine unsichtbare Spinnwebe an ihm haften, das der unauslöschliche Stempel von „Traum“ auf seinem Gesicht sei. Es war, als atme eine fremde Gegenwart, in seinem Innern verborgen, statt seiner. Armen fiel plötzlich ein, wie Fusi sich gestreckt und Kler geküsst hatte und er schüttelte sich. Diese Beiden waren gleichsam die Schatten dieses Fremden, die sich nur deshalb voneinander getrennt hatten, um sich wieder zu vereinigen. Gerade darum konnten sie ihn so leicht betrügen und ihn in diese sinnlose Rauferei einwickeln. Jetzt saßen sie wohl irgendwo, hielten einander in den Armen und sprachen vom Zwischenfall: Fusi lacht laut, wobei er bei jedem Wort innehält und den Kopf schüttelt, während Kler einschmeichelnd feminin lächelt...
Armen führte das Brot an die Lippen, aber er spürte, dass er nicht essen konnte, solange er dieses ekelhafte Gefühl nicht losgeworden war. Er drehte sich heftig um, trat unter die Bäume und stieg zu dem kleinen See hinunter, den er unterwegs zum „Traum“ bemerkt hatte. Der See öffnete sich auf einmal im Wald, von einer dichten Mauer aus Schilf umgürtet. Armen kreiste um den See, bis er einen versteckten Pfad bemerkte, der sich im hohen Schilf verlor. Vorsichtig trat er ins Schilf hinein und stand bald am Ufer des Sees. Das Wasser war erstaunlich rein, es hatte keinen Sumpfgeruch. Es war unklar, woher sich der See speiste, ringsum war kein Fluss und kein Bach zu sehen. Vielleicht speiste er sich aus der Tiefe, aus einer unbekannten unterirdischen Quelle. Einen genauso sauberen kleinen See gab es auch in den Bergen seiner Heimat und dieser See schien ihm jener vertraute See zu sein. Armen tauchte den Kopf ins Wasser und lächelte; er wurde von demselben angenehmen Gefühl befallen, welches er hatte, wenn in seiner Kindheit die Mutter seinen Kopf in ihren Schoß legte und zärtlich seine Haare streichelte. Armens Herz schlug von dieser zärtlichen Berührung höher. Er hielt den Atem. Unendlich viel Zeit schien vergangen zu sein. Als er den Kopf aus dem Wasser hinauszog, fühlte er sich wieder rein, gesund, stark, wie neu geboren...
Obwohl das Brot zäh war und säuerlich schmeckte, genoss es Armen unsäglich, durch den dunkelnden Abend zu gehen und zugleich das Brot zu essen, das ihn so viel Leid gekostet hatte. Dadurch wurde das Brot selbst teuer und appetitlich. Es gab einen unbegreiflichen Zusammenhang zwischen der Abenddämmerung und dem Brot: Das Abendlicht und das Brot schienen sanft und unauffällig zu verschmelzen und einträchtig in seinem Innern zu verschwinden. Als ob Armen den Tag in Teilen aufsaugte, um der heraufkommenden Nacht Platz zu schaffen. Armen lächelte vertraulich: Er hilft der Zeit, ihr schwieriges Werk zu vollbringen. Er wurde von einer lässigen und leichten Stimmung befallen. Es gibt nichts, woran es sich zu denken lohnt. Geh und iss!...
Plötzlich vernahm er eine heftige Auseinandersetzung. Armen stand auf und lauschte gegen das mannshohe Gebüsch, das sich links erhob und sich schwarz vor den Bäumen abhob.
„Lass...!“ kam eine mahnende Mädchenstimme.
„Lass...!“ sagte die gedämpfte Stimme eines Jungen.
„Lass...!“ wiederholte das Mädchen.
„Lass...!“ flehte der Junge.
„Lass...!“
„Lass...!“
„Lass...!“
„Lass...!“
Armen lächelte und wollte schon weitergehen, als er plötzlich den schrillen flehenden Schrei des Mädchens hörte. Armen ging schnell auf das Gebüsch zu und ziemlich weit in der Tiefe des Gebüsches sah er einen Jungen, der ein Mädchen fest umschlungen hatte. Der junge Körper des Mädchens zappelte ängstlich in den Armen des Jungen; zu sehen war die frische schneeweiße Brust des Mädchens, die sich im Gerangel halb entblößt hatte.
„He du!“ schrie Armen drohend. „Warum bedrängst du sie?“
Beim Klang der Stimme Armens ließ der Junge sofort das Mädchen los und das Mädchen begann verlegen ihr Kleid auf der Brust rasch zusammenzuziehen.
„Nein, nein, er bedrängt mich nicht!“ sprach das Mädchen alarmiert mit einer dünnen jungen Stimme. „Wir sind schon erwachsen und lieben einander...“
„Ihr tut gut daran, euch zu lieben!“ lachte Armen.
Am Ende eines schmalen Pfades kam eine junge Frau ihm entgegen, die mit beiden Händen gewissenhaft einen Kinderwagen schob. Armen trat wortlos zurück, um ihr den Weg frei zu machen.
„Danke!“ Die Frau lächelte im Vorübergehen Armen an.
Es war eine großäugige und schwarzhaarige Frau mit einem nachdenklichen Gesicht, sie hatte ein besonders schönes und einnehmendes Lächeln.
„Was für ein süßes Lächeln hat ihr Kind!“ meinte Armen schalkhaft, auf das Baby deutend, das im Kinderwagen friedlich schlief.
„Das ist nicht mein!“ Die Frau schien überrascht und wehrte sich gleichsam. „Es ist das Kind meiner Nachbarn...“ Sie sah einen Augenblick aufmerksam auf das abgenagte Brot in Armens Hand und wandte den Blick ab. „Sie haben mich einfach gebeten, das Kind in die frische Luft zu bringen; ich selbst bin nicht verheiratet...“
„Und ich habe niemanden, ich bin hier allein...“
„Hm...“
„Und erwarte niemanden...“
Sie nickte mit dem Kopf.
„Ich gehe einfach so für mich hin und nage an meinem Stück Brot...“
„Ich hab ’s verstanden“, sagte sie.
„Vermissen Sie denn Ihren Freund sehr?“ fragte Armen plötzlich heimtückisch in vollem Bewusstsein, das Maß zu überschreiten.
„Ja.“ Die Frau kniff die Augen zusammen, um ihre Verwunderung zu verbergen. „Aber er ist jetzt leider sehr weit...“ Ihre Stimme bekam einen fernen träumerischen Klang, was davon zeugte, dass sie aufrichtig war.
„Das kann ich nicht verstehen!“ versetzte Armen mit einer arroganten Frechheit. „Sie sind so schön und warten auf die Rückkehr Ihres Freundes?“
„Genau wie Sie.“
„Aber ich habe keine Freundin.“
„Dies hat nichts zu bedeuten“, meinte sie. „Ihren Augen kann man ablesen, dass das nicht stimmt.“
„Trotzdem schenke ich Ihnen gern all diese Blumenbeete!“ Armen streckte theatralisch die Hand aus und wies auf das etwas weiter liegende verwahrloste Blumenbeet, das schonungslos zertreten war. Er lachte gedemütigt und zugleich frech über den eigenen Witz und hatte erstaunlicherweise das Gefühl, nicht er lache, sondern Fusi an seiner Stelle...
„Sie sind sehr großmütig“, sagte sie gekränkt. „Auf Wiedersehen!“ Sie schob heftig den Kinderwagen, wovon das Kind aufwachte und zu weinen begann.
„Entschuldigen Sie!“ besann sich Armen. „Ich wollte nicht...“
Die Frau blieb nach einigen Schritten stehen, beruhigte das Kind, rückte die Windeln zurecht und entfernte sich, ohne sich umzusehen.
II
In der allumfassenden Finsternis waren das Niedere Kitak und das Obere Kitak in eins verschmolzen. Die Große Kreuzung war in ein feuchtes Dunkel getaucht. Anstelle der untergegangenen Sonne brannten vier magere Straßenlaternen, deren trübes Licht im Wind, der von der Steppe her blies, mal heller wurde, mal blasser. Unverändert hell beleuchtet war nur das riesige Schild des Rondells, dessen Säulen das Dunkel verbarg, so dass das Schild, am Himmel angefestigt, über Kitak herabzuhängen schien. Die verzerrten Buchstaben der Schrift muteten wie zackige Schatten an und es war unmöglich, zu verstehen, was das Geschriebene zu bedeuten hatte. War das neue Gesetz selbst inzwischen womöglich obsolet geworden?...
Die Gehsteige waren erstaunlicherweise menschenleer, außer einigen Passanten war niemand da. Die Stille wurde zuweilen durch das Dröhnen der hin und her fahrenden Autos gestört, aber auch dieses Dröhnen ging im Lärm des Winds schnell unter. Kitak hatte sich in seine Schale verkrochen und empfing die Nacht in seinen unzähligen Höhlen, Spalten, dunklen Winkeln und hinter den Vorhängen trüb beleuchteter Fenster. Das Leben schien eine geborgene Ecke zu suchen, um sich dort vor zufälligen Blicken zu verstecken. Der stickige Geruch des Staubs war noch intensiver geworden.
Armen wollte in die Straße einbiegen, auf der er gekommen war, als er neben dem Zeitungskiosk an dem Übergang, der das Niedere Kitak mit dem Oberen Kitak verband, eine menschliche Gestalt bemerkte, die, mit dem Rücken an den Laternenpfahl gelehnt, verloren und hängenden Kopfes wie eine Statue einsam da stand. Armens Herz erbebte plötzlich und er blieb stehen; er hatte auf einmal das Gefühl, dass der Mann, der hängenden Kopfes im trüben Licht der Laterne stand, ... er selbst war. Eine ferne Sehnsucht schwellte seine Brust, als ob dieser Mann seine verlorene Kindheit sei, die er einmal für immer verlassen habe, und er von sich getrennt aufgewachsen und dieser Mann geworden sei, der jetzt still und hängenden Kopfes im Licht der Laterne stand. Wie im Fieber begannen Armens Lippen schnell etwas Unverständliches zu murmeln. War das etwa eine Vision oder vielleicht das Schicksal...?
Armen überquerte die Straße und ging auf den Mann zu. Je näher er kam, umso mehr überzeugte er sich, dass er sich nicht geirrt hatte; der Mann war kein anderer als er selbst, Armen: Der Wuchs, der Kopf, die breiten Schultern, wie er da stand, mit den auf dem Rücken gekreuzten Armen, die großen und ehrlichen Hände... Eine unbegreifliche Rührung packte ihn und ein Schluchzer schnürte ihm die Kehle zu.
„Hallo“, brachte Armen mit erstickter Stimme hervor, als er vor dem Mann stand. Dieser hob den Kopf und sah zutiefst erstaunt Armen an.
„Möchtest du?“ Armen reichte ihm das Brot.
Der Mann gab keine Antwort.
Armen betrachtete das Gesicht des Mannes, das sein eigenes zu sein schien, nur schrecklich leidvoll und erschöpft, gleichsam gealtert. Aus seinen Augen sah eine erstarrte Resignation Armen mit einer bodenlosen Jämmerlichkeit und einer schicksalhaften Verurteiltheit gemischt an. Armens Herz wurde beklommen. Es drängte ihn, auf einmal den Mann zu umarmen und an seiner Brust fest zu drücken, aber er hielt sich zurück und empfand scharf die abgrundtiefe Einsamkeit, die lauernd ringsum schwieg.
„Du wartest?“
Der andere trat von einem Fuß auf den anderen, gab aber keinen Laut von sich.
„Ich denke, wir kennen uns irgendwoher“, meinte Armen.
Der Mann senkte die Augen und blieb stumm. Um das Licht der Laterne kreisten allerlei zahllose Insekten. Einige saßen auf dem Kopf und den Schultern des Mannes, aber er spürte es nicht, als sei er in eine unwiderrufliche Stille vertieft und nicht da.
„Du bist ganz von Mücken umgeben“, sagte Armen. „Komm her, zu mir!“ Er führte die Hand unwillkürlich zum Mann, aber zog sie sogleich zurück: Er hatte den Eindruck, dass die Augenlider des Mannes flatterten und er die Lippen stumm bewegte. Schließlich hob er langsam den Blick und sah Armen befremdet an. Die Augen schauten gleichsam aus einer unbekannten Welt und in deren dunklem und fernem Glanz erkannte Armen plötzlich das Schicksal wieder...
Armen wandte sich ab und ging, ohne sich zu verabschieden, schweren Herzens und gesenkten Hauptes aufwärts. An der Straßenecke kam ihm ein von Kopf bis Fuß schwarz gekleideter Mann entgegen, es war, als erwüchse er aus dem Boden. Es war ein langhaariger Mann von mittlerem Wuchs, über dreißig, mit einem dichten und langen Bart, dünnen und hervorstehenden Backenknochen und winzigen kohlenroten Augen. Der Mann sah einen Augenblick lang Armen scharf und argwöhnisch an und ging vorbei. „Er ist ’s...“ blitzte es in Armen auf und er erzitterte am ganzen Leibe. Mit entschlossenen Schritten ging der Mann auf denjenigen zu, der im trüben Licht der Laterne einsam stand, und sagte zu ihm etwas, noch im Nahen die Arme ausbreitend. Am Ziel angelangt, schüttelte er flüchtig ermunternd die Schulter des Einsamen und ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Der, der im Licht der Laterne stand, blieb eine Weile verloren und bedrückt da, folgte ihm dann, die großen ehrlichen Hände bereitwillig schwingend...
Die Straßen waren dunkel und leer. Wie zum Trotz wiederholten sie sich endlos, um Armen irrezuführen. Lange tappte Armen herum, bis er den Rückweg fand. Es war schon tiefe Nacht, als sich im Dunkel das Kinderspielfeld vage abzeichnete.
Der Grund für die „Welt der Kinder“ war immer noch nicht ausgehoben.
© Levon Sargsyan
© Sevak Aramazd