SEVAK ARAMAZD, DER TOD DER MUTTER

Erzählung, 2006

 

Aus dem Armenischen ins Deutsche übersetzt vom Autor 


 

    Draußen, auf der Straße, war tiefe Winternacht. Die Stadt schien gleichsam vom Boden verschluckt und die einsame Finsternis suchte hoffnungslos ein passendes Versteck, um sich vor der ungeheuerlichen Kälte zu retten. Die Kälte drang gleichgültig in alles hinein und vor ihrem unersättlichen Atem zitterten Wände und Dach. Der kleine Blechofen brannte mitten im Zimmer, doch schaffte er es kaum, sich selbst zu erwärmen. Die Kälte hatte mit unsichtbaren Händen auch das Feuer ergriffen, das wie ein gefangener Vogel in ihrem eisigen Griff verzweifelt zappelte und ab und an schrill knisternde Schreie von sich gab und vor Hilflosigkeit gleichtönig schluchzte…

     Angekleidet kauerte Areg unter der Decke und versuchte, jede Bewegung zu vermeiden, um nicht die geringste Wärme zu verlieren, die zwar lau und feucht war, doch ihm half, unaufhörlich seinen lebendigen Atem zu spüren. Es war sogar angenehm, von Zeit zu Zeit mild zu frösteln und dann wieder unbeweglich zu versteinern. Unwillkürlich verfolgte Areg die aus dem Ofen steigenden Lichtschimmer, die an der finsteren Decke des Zimmers kreisförmig flimmerten und verblüffend schnell unzählige Formen wechselten, als ob eine unbekannte Hand ununterbrochen immer Dasselbe niederschrieb und sofort wieder löschte. Vorsichtig drehte sich Areg um und schaute ängstlich in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers, wo seine kranke Mutter lag.

   Die Krankheit zehrte unbemerkt an der Mutter. Äußerlich schien alles in Ordnung zu sein, doch mit der Zeit welkte die Mutter immer mehr. Angesichts des stillen Dahinschwindens der Mutter plagten Areg schreckliche Gewissensbisse und so litt er sowohl für sie als auch für sich selbst. Am liebsten wollte er einfach nur verschwinden, vom Boden verschluckt werden, um das, woran zu denken ihm schon graute, nicht miterleben zu müssen. Das hilflose und stille Lächeln der Mutter, ihre kraftlosen Hände, die immer trockener und faltiger wurden, ihre immer langsamer werdenden Bewegungen und erstickten Seufzer, wenn ihr Kopf schwer auf das Kissen niedersank – all dies machte Areg wahnsinnig. Ihn verließ nicht das Gefühl, er selbst sei schuld an der Lage der Mutter. Vor Kummer zusammengekauert, setzte er sich neben das Bett der Mutter, starrte auf ihr Gesicht. Ihm schien, als sei er auch an derselben Krankheit wie die Mutter erkrankt, als schwinde auch er langsam dahin, und mit verzweifelter Entschlossenheit sehnte er sich danach, zusammen mit der Mutter zu sterben. Er schloss die Augen und versuchte, sich diesen Augenblick lebendig vorzustellen, aber sein Herz füllte sich sofort mit endloser Trauer und Selbstmitleid. Ihm kamen die Tränen. Er beobachtete sich im Spiegel, um auf seinem Gesicht eindeutige Vorzeichen des Todes zu entdecken, er sah aber jedes Mal denselben munteren Jungen mit funkelnden Augen. Dies wirkte auf ihn derart befremdlich, dass er gekränkt dieses täuschende Spiegelbild am liebsten einfach zerbrechen wollte, als er von hinten die versöhnliche und ruhige Stimme der Mutter vernahm:

     „Areg“. Die Mutter hob schwach die Hand und lächelte. „Setz dich zu mir: erzähl was und ich höre zu…“    

    Eines Tages blieb die Mutter im Bett und stand nicht mehr auf. Diese Gewissheit beruhigte Areg merkwürdigerweise. Die Angst vor dem Tod verschwand aus seiner Seele und besonnen sah er nun seine Mutter vor sich, die unheilbar krank war. Und es war auch nichts Besonderes daran, dass er selbst gesund und stark war. Es bereitete ihm nun Genugtuung, die Mutter restlos zu pflegen, und das hatte weder mit der Mutter noch mit ihm etwas zu tun. Und ein Gefühl ruhevoller Traurigkeit überkam ihn, vermengt mit ernstem Pflichtbewusstsein und stillem Mitleid, das sich sowohl auf das Leben als auch auf den Tod bezog. Er hörte auf, an das Ende zu denken: Solange die Mutter da ist, ist auch er da; solange er da ist, ist auch die Mutter da; er und die Mutter sind da und werden auch immer da sein, unabhängig von Leben und Tod… 

    Areg drehte sich vorsichtig auf den Rücken. Der Ofen brannte noch im Dunkel. Das Feuer knisterte in der Stille und erfüllte das Zimmer mit dem Geruch von rauchendem feuchtem Holz. Areg spürte im Mund herben Blutgeschmack. Er drückte die Lippen zusammen. Plötzlich fiel ihm die große Katastrophe ein, von der die Mutter immer wieder erzählte: Ihn mit ihren Armen fest umklammernd, flieht sie verängstigt mit zerzausten Haaren über die Berge… In seinem Inneren war wieder alles durcheinander und er blickte wieder dieser nackten Tatsache ins Auge. Vielleicht war es reiner Zufall, dass er und seine Mutter damals nicht umgekommen waren… Er versuchte den in ihm wirr aufkommenden Bildern zu entfliehen. Areg hob schnell den Kopf vom Kissen: In der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers lag die Mutter lautlos unter dicken Decken. Im Dunkeln ähnelte ihr Bett einem schwach umrissenen Grab. Und auf einmal spürte er mit einer stechenden Klarheit das übermenschliche Band, das zwischen ihm und seiner Mutter bestand, und es schien ihm, als sei die Mutter bereits nicht mehr da, als sei sie bereits gestorben… 

   „Mama?“, rief Areg leise und versuchte das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. „Schläfst du?“

   Es verging eine endlose Zeit, bis die Stimme der Mutter zu hören war, die gleichsam aus dem Boden zu kommen schien.

   „Was ist, Areg?“

   „Wie geht es dir?“

   „Gut. Schlaf jetzt…“    

   Schwer seufzend legte Areg sich wieder hin. Als sein Kopf das Kissen berührte, kam es ihm so vor, als würde ein unbekanntes Insekt in seinen Nacken stechen, in seinen Kopf eindringen und mit einem widerlichen Summen in seinem Gehirn zu kreisen beginnen. Areg sprang auf, schloss seine Ohren fest mit beiden Händen und lehnte sich an den Bettpfosten. Das Summen wurde immer heftiger. Als ob das Insekt etwas in seinem Kopf suchen und sein Gehirn beschnüffeln würde. Plötzlich hörte das Summen auf. Das Insekt setzte sich auf sein Gedächtnis, stach seine scharfen und gewundenen Rüssel in eine feine blaue Ader und fing an, sein Blut zu saugen…

    Genervt warf Areg die Decke mit einer heftigen Bewegung weg. Und sofort stürzte sich die lauernde Kälte mit stechenden Bissen auf ihn.    

   „Warum schläfst du nicht, Areg?“, kam die erstaunlich ruhige und klare Stimme der Mutter aus der gegenüberliegenden Ecke.

   Areg antwortete nicht. Er schloss die Augen und wollte, um die Mutter nicht zu beunruhigen, so tun, als ob er schliefe, aber ehe er sich versah, hatte er bereits gesprochen:

   „Mama, warum ist das alles mit uns passiert...?“

   Es herrschte angespannte Stille: Es war nur das verzweifelte Knistern der erstickenden Flamme zu hören. An der finsteren Decke tanzten die Schimmer stürmisch im Kreis und tobten im Rausch…

   „Hör auf, nachzudenken, schlaf jetzt“, murmelte die Mutter. „Das ist jetzt nicht wichtig…“ 

   „Wieso?“, fragte Areg leise, den die Reaktion der Mutter unangenehm überrascht hatte. Aber es kam ihm vor, als ob seine Stimme in der kalten Stille widerhallte.

   „Wenn es soweit ist, wirst du es verstehen“, sagte die Mutter beinahe flüsternd und seufzte. „Und jetzt schlaf…“

   Areg wurde still. Auf die Decke starrend, begann er mit zerstreutem Blick den Schimmern zu folgen, die jetzt eher in der Finsternis herumirrenden Gespenstern glichen. Eine dunkle Vorahnung drückte sein Herz. Im selben Augenblick hörte er draußen Schritte, die scheinbar aus weiter Ferne zu kommen schienen. Er hielt den Atem an. Die Füße schonungslos in den Schnee stampfend, näherte sich jemand unaufhaltsam durch Sturm und Frost. Die Schritte wurden immer deutlicher. Beim Haus angelangt, verstummten die Schritte plötzlich. Vom Fenster her fiel ein riesiger Schatten in das Zimmer herein und es kam das kaum hörbare Geräusch eines kalten Atems…

   Mit einem Ruck sprang Areg im Bett auf: Das Fenster war fest mit Stoff überzogen und hob sich im Dunkeln von der Wand kaum ab. Eine Zeit lang verharrte er verlegen. Dann zuckte er mit den Achseln, legte sich wieder hin und deckte sich zu. Plötzlich waren unter dem Fenster erneut dieselben Schritte zu hören, die sich ohne Eile entfernten…

   Areg horchte. Es herrschte Stille. Der Ofen war ausgegangen und das Zimmer war in eine abgrundtiefe Finsternis eingetaucht. Als wäre jemand unbemerkt hereingekommen, hätte das Feuer gelöscht und wäre dann lautlos fortgegangen. Es schauderte ihm, er wollte aufstehen, als er aus der Tiefe der Finsternis die Stimme der Mutter vernahm:

   „Areg, schläfst du nicht?“

   „Nein, Mama. Ich wollte das Feuer im Ofen wieder anfachen, es ist aus.“ 

   „Lass das…“ sagte die Mutter zerstreut. „Ob an oder aus: es macht keinen Unterschied… Leg dich hin und deck dich gut zu, damit du nicht frierst, mein Kind. Wie schade, dass ich nicht aufstehen und dich eigenhändig zudecken kann…“ seufzte sie.  

   „Wirst du aber nicht frieren, Mama?“

   „ Ach! Die Kälte friert vor mir, Areg…“

   Die Stille wog schwer.  

   „Areg?“ kam die Stimme der Mutter erneut, die unschlüssig und gleichgültig klang.

   „Was ist, Mama?“

   „Er kam zu mir, aber ich habe ihn fortgeschickt.“  

   „Wer?“, fragte Areg bestürzt.

   „Der Tod“, sagte die Mutter mit einer schwachen, aber deutlichen Stimme.

   Areg verstummte.

   „Ich habe ihm gesagt, dass ich jetzt nicht sterben und meinem Sohn bei dieser Kälte Kummer und Sorgen bereiten will“, fuhr die Mutter erstaunlich ruhig fort, als ginge es um ein alltägliches Treffen. „Ich habe ihm gesagt: Geh jetzt und komme erst im Frühling wieder, im April, wenn die Sonne wieder scheint und die Bäume wieder blühen…      

   „Mama…!“, flehte Areg stark ergriffen von den Worten der Mutter, die so klar und offen das verrieten, worüber bis dahin noch nie laut gesprochen wurde.

   Die Mutter antwortete nicht. Areg wartete auf eine Antwort, so angespannt, als hinge sein Leben von der Antwort der Mutter ab. Plötzlich vernahm er eine sehr leise, heimliche Stimme: Im Dunkeln liegend murmelte die Mutter anscheinend etwas vor sich hin. Areg horchte auf. Die Stimme verstummte unerwartet, und im selben Augenblick hallten die Worte der Mutter erstaunlich klar in Areg wider: „Mein Sohn ist gerettet…“ Areg war verblüfft. Er wollte aufstehen, als er wieder die Stimme der Mutter hörte: Die Mutter schien zu lachen und ihr Lachen schien von weitem zu kommen. Das war ein stumpfes, ersticktes Lachen, dessen Klang wie eine unsichtbare Nadel die Finsternis durchbohrte…

   Aregs Herz raste vor Angst.                    

   „Mama…!“

   Areg sprang aus dem Bett und machte das Licht an. Vom plötzlichen Licht wurden seine Augen kurz geblendet und es schien, als ob irgendwelche dunklen Schatten sich in panischer Flucht in den Ecken des Zimmers versteckten und verschwanden. Areg eilte zum Bett der Mutter und beugte sich über sie.

   Mit geschlossenen Augen lag die Mutter im Bett und ihre zerzausten Haare ruhten wie die blassen Strahlen des Abendlichts kraftlos um ihren Kopf herum. Innerhalb einer Nacht schien die Mutter dermaßen gealtert zu sein, dass ihr Gesicht mit seiner kalten Feierlichkeit einer unbeweglichen Maske ähnelte; die tiefen Augen lagen im Schatten der Augenhöhlen begraben und in den faltigen Mundwinkeln ruhte ein unwiderrufliches Geheimnis…

   „Mama?“, wiederholte Areg erschrocken.

   „Was ist?“, murmelte die Mutter teilnahmslos mit verschlossenen Augen, wie im Schlaf.

   „Wie geht’s dir…?“      

   „Gut“.

   Dieses Wort der Mutter prägte sich unerwartet klar und deutlich in ihm ein und blieb für immer in seiner Seele. Areg kam es so vor, als ob jemand im Dunkeln die Tür zumachte, sie sorgfältig verschloss und sich mit dem Schlüssel in der Tasche entfernte. Eine Weile waren seine geräuschlosen Schritte zu hören, die nach und nach abklangen. Areg wurde klar, dass er seine Mutter für immer verlor, aber ein Gefühl des Verlusts hatte er nicht. Eine große Stille machte sich einem unsichtbaren Schirm gleich breit und überdeckte Mutter und Sohn…

   Areg umarmte die Mutter und drückte sie fest an seine Brust. Die Mutter war unvorstellbar ausgetrocknet und abgemagert. Areg versteckte sein Gesicht in ihren Haaren und spürte ihren vertrauten, von ihm so sehr geliebten Geruch, das Einzige, das an ihr unverändert geblieben war. Areg atmete unersättlich den Geruch der Mutter, liebkoste sie, doch die Mutter erwiderte die Zärtlichkeiten ihres Sohnes nicht: Still und bewegungslos verharrte sie in ihrer Stellung, scheinbar abwesend, und entfernte sich unmerklich mit unwahrnehmbaren Schritten für immer…

   Areg klammerte sich an seine Mutter und wollte sie nicht loslassen. Die Mutter war für ihn sein Kind, sein kleines liebes Kind, sein totes Kind…

  Seit dieser Nacht umhüllte die Mutter eine undurchdringliche Stille und sie sprach nicht mehr. Sie lag immer in derselben Stellung, das Gesicht nach oben gerichtet, die großen Augen halb geschlossen: in ihrem Blick war jedoch kein Ausdruck mehr. Es schien, als ob die Mutter in einer anderen Welt lebe und der kleine Körper, der auf dem Bett ruhte, keinen Bezug zu ihr habe…

   Die Mutter starb Ende April, an einem sonnigen Frühlingstag. Areg ließ sie in einem unscheinbaren Winkel des städtischen Friedhofes beerdigen. Die mitgebrachten Blumen legte er auf ihr Grab, blieb eine Weile mit gesenktem Kopf stehen und kehrte nach Hause zurück.

  Als er das Zimmer betrat, war er überrascht: im Haus herrschte gähnende Leere. Es schien, als hätten die ihm so vertrauten Gegenstände ihn ebenfalls verlassen. Ziellos streifte er im Haus umher und beobachtete mit einem finsteren Blick ausführlich – als versuche er sich alles zu merken – jeden Winkel des Hauses, als er plötzlich in der Luft den lebendigen Duft der Mutter vernahm. Kraftlos sank er auf den Stuhl, auf dem für gewöhnlich die Mutter saß, und brach in Tränen aus… Eine Zeitlang starrte er mit versteinerter Miene die auf dem Tisch munter spazierenden großköpfigen Fliegen an, bis er plötzlich aufzuckte, als wäre ihm etwas längst Vergessenes wieder eingefallen. Er stand auf, packte ohne Eile einige Sachen zusammen, schloss die Tür ab, übergab den Schlüssel dem Hausverwalter und verließ die Stadt.

   Das Einzige, das ihn die ganze Zeit begleitete, war das im Augenblick des Todes im Gesicht der Mutter erstarrte kaum wahrnehmbare Lächeln.                                

2006

                                                                                                                                                              

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